Wärmeflasche und Kamillentee

Unser “armer” Poet liegt mit Liebeskummer und Herzeleid im Bett. Nun, es ist wahr. Die Temperatur stieg gestern auf 38,5 Grad, und die Nase füllte einige Taschentücher, doch wurde ein apothekenkundiger Tablettengriff schnell des Kopfwehs und des Fiebers Herr, nicht jedoch des Ameisengekrabbels, das sich bei jedem Gedanken an seine “Droste des Zwanzigsten Jahrhunderts” verstärkt bemerkbar machte. Ja, es scheint ihm nicht vergönnt zu sein, am Busen der Musen dichten zu dürfen. Statt dessen muss er den spitzwegigen Poeten spielen und Trübsal blasen. Auf dem Nachttisch befinden sich neben Tablettenschachteln die “blaupapiernen” Gedichte unserer Kindergärtnerin und auch ein von seiner rothaarigen Ehefrau gesandter Brief, den er vorgestern nach seinem missratenen Café-Rendezvous zur Vermehrung seines Unglücks von der Post abgeholt hatte.

 

Jetzt muss ich ja wohl wieder nach Meersburg zurück. Lilia will, dass ich sofort komme. Gottseidank hat sie die Möbel bekommen. Es war doch alles ein Risiko. Aber sie wollte ja unbedingt ihre Tauglichkeit als fürsorgliche Ehefrau und Mutter unter Beweis stellen. In letzter Zeit wird es mir immer schwerer, an den Bodensee zurückzukehren, zurück zu einer ungeliebten Frau und der ganzen Barackenwelt mit all ihren Gebrechen und Notlagen. Doch meine Kinder freuen sich immer, wenn ich komme. Ich muss ihnen vor jeder Abreise versprechen, recht bald wiederzukommen. Ich liebe sie. Aber sie sind trotzdem Bleigewichte an meinen Dichterflügeln. Lilia wollte mir ja immer zu schwerelosen Höhenflügen verhelfen. Sie hat so viele gute Absichten. Ja, ihr Kern ist gut. Das weiss ich. Aber ... ? Maria! Was ist das doch für ein Prachtmädchen! So eines, von dem man sonst nur in schönen Büchern zu lesen bekommt. Aber sie existiert. Sie ist lebendig, und ich... Ach, nur nicht wieder an sie denken. München ist mir auch verleidet. Meersburg und München sind mir jetzt zur Hölle geworden. Und in solchen Infernos soll ich mich als Dichter behaupten können? Es klopft. Herein! Das wird die gute Frau Huber sein.

 

Frau Huber: Grüss Gott! Na, was macht unser kranker Doktor? Geht es Ihnen besser? Ist das Fieber herunter?

 

Molar: Ja, liebe Frau Huber. Mir geht es schon viel besser. Ich werde gleich aufstehen, denn ich muss meiner Frau eine Karte schreiben.

 

Frau Huber: So sehen Sie aus! Nichts wird aufgestanden (bayrische Sprachverdrehung)! Sie bleiben noch mindestens zwei Tage im Bett und kurieren sich erst einmal richtig aus. Sie sind doch, wie Sie sagten, Apotheker. Als solcher sollten Sie es doch besser wissen! Jetzt trinken Sie den Kamillentee, und ich werde derweil in Ihre Wärmflasche neues heisses Wasser giessen. Und die Karte kann ich wohl auch für Sie schreiben.


Schreiben Sie ihr, dass ich im Augenblick krank sei und noch nicht zurückkommen könne.

 

Frau Huber: Verlassen Sie sich auf mich. Wie lautet denn die Anschrift?

 

Molar: Meersburg am Bodensee, Sommertal 7.

 

Frau Huber: Ich geh’ nachher gleich (hausbackenes deutsch aus zwei sich widersprechenden Zeitadverbien). Kann ich für Sie sonst noch was erledigen?

 

Molar: Nein, danke!


Und unser Wärmflaschenversorgter sitzt nach einem Erquickungsschläfchen wieder in seinem Federbett: Was wird sie jetzt wohl machen? Denkt sie wohl manchmal an mich? (Wir haben Maria gerade besucht und können darum seine Frage mit ja beantworten.) Ja? Aber warum verlässt sie mich so störrisch? Sie ist doch kein Kind mehr, das man gekränkt hat? Sie hat mich aus ihrem Kreis verbannt. Ja, sie, die meine Musenmagnetinsel und meine mich beschützende Pallas Athene hätte sein können, stösst mich zurück in das immer noch nicht zur Ruhe gekommene und sturmdurchpeitschte Weltenwellenmeer. Nun werde ich wohl nach Madagaskar gehen müssen. Und ich hatte mich in meinem Herzen schon dazu bereit gefunden, um ihretwillen alle Ölpalmpläne aufzugeben. Aber jetzt ist es entschieden. Ich, der Verbannte, gehe in die Verbannung. Aber ist es denn nicht meine Aufgabe, hier in dem zertrümmerten Deutschland die notleidenden Seelen wieder anzufeuern mit Hoffnung, Glaube, Liebe? Ja, das stimmt schon. Aber wenn meine Hoffnung, mein Glaube, meine Liebe versiegen, wie kann ich dann wohl liebespendend und brückenbauend tätig sein? Ach, ich weiss nicht, was ich tun soll. Ich sollte mich einfach meinem Schicksal überlassen.


Ja, ihre Gedichte! Sie sind schön. Aber zu privat. Des Lesers Gefühle sympathisieren zwar mit dem Weh der Dichterin, denn ihre Lyrik vermittelt Trost durch Mitgefühl und Mitleiden. Aber wo bleibt der Anruf zum Aufbruch in ein neuzugestaltendes, hoffnungsvolles Leben? Die Dichtung der Notzeit, in der wir heute stehen, muss jedoch aufbauend wirken, muss die Kräfte in den verzweifelten Menschen wieder antreiben und zwar zu guten Taten der Liebe.

 

Er nimmt den blauen Papierbogen von dem Nachttisch und studiert das erste der Gedichte. Er liest es nun zum vierten Male durch, und wir wollen dieses ihr pubertäres Gedicht des tieferen Hintergrundes wegen in unser Buch mit aufnehmen, obwohl vorbehaltende Einwände durchaus berechtigt sind.

 

AUF DER JAGD

 

Bin ein gehetztes Wesen,
Eilend vom Schatten zur Nacht.
Nie bin ich “tierischer” gewesen,
Als heute auf der Jagd.

Verfolgt von dunklen Trieben,
Lechzend nach seelischer Ruh'.
Kein Schutz ist mir geblieben,
Ich suche noch immerzu.

Möcht' mich im Wald verbergen,
In irgendeiner Schlucht.
Vergebens ist mein Werken,
Vergebens meine Flucht.

Muss an die Welt mich binden,
Unter die Jäger reih'n.
Hier kann ich Schonung finden,
Auch wenn ich bin allein.

Mein Äusseres heisst mich Mensch.
Mein Inneres schreiet leise
Wie ein gejagtes Wild
In stummer Klageweise.

 

Ja, zu den Hebungen und Senkungen, vor allem in den ersten beiden Strophen, gäbe es viel zu sagen. dasswäre noch die harte Arbeit einer ganzen Nacht nötig. Aber sie sagte ja, ihre Gedichte schrieben sich von selbst wie nach Diktat, und sie wage deshalb nicht, auch nur ein Wort daran zu berichtigen. Sie ist doch als Dichterin noch richtig naiv. Nun ja! Jeder willfahre nach seinem Dafürhalten. Hat dieses Gedicht vielleicht etwas mit ihrer mir angedeuteten Flucht zu tun? Wenn ich nur mehr über sie erfahren könnte! Aber jetzt sind ja alle Brücken eingerissen.

 

Ist Maria wirklich ein Flüchtling?

 

Nun, ich bitte dich noch um Geduld. Wir werden noch Gelegenheit finden, jene Fluchtkapitel dem Bauch unseres Beichtbuches der deutschen Seele einzuverleiben. Aber dafür ist noch nicht die Zeit gekommen, denn auch wir müssen uns an die Himmelskonstellationen dieses Offenbarungswerkes halten.

 

Molar: Ja, ihre Gedichte sind wirklich “kinderleicht”, wie sie sagte. Aber zugleich sind sie auch abgrundtief. Sie muss in ihrem seelischen Alleinsein sehr viel erleiden. Ich sollte ihr helfen, aus ihrer Isolation herauszutreten. Ihre Gedichte sind die Schreie ihres notleidenden Ichs. Sie rufen nach Hilfe, ohne sie in unserem Diesseits wirklich erwarten zu können. Es sind Verzweiflungsrufe. Ja, solche Gedichte habe ich als Pennäler verfasst. Aber ich, als schaffender Dichter der Nachkriegszeit, darf nicht an meine eigene Not denken und diese zum Gegenstand meines Dichtens erheben. Ich muss den anderen in ihrer Not mit meiner Lyrik helfen. Jeder muss mit seinen besten Kräften den anderen helfen. Und die Dichtung ist meine beste Kraft. Nein, nur die Mitmenschen nicht mit eigener Not belagern! Die haben selbst zuviel davon. Ja, ich muss möglichst schnell wieder gesund werden und weiterhin Brückenbauerdienste leisten. Ich habe keine Zeit, mich faul in den Betten zu drücken und krank zu feiern. Der Menschheit will geholfen sein, und ich werde helfen! Heute will ich noch Maria schreiben. Aber morgen geht es fort von hier auf Verkaufsreise nach dem Norden. Frankfurt, Köln, Hamburg. Das wird mich auf andere Gedanken bringen. Ich kann auch nicht wieder mit leeren Taschen nach Meersburg zurückkehren. Ich habe ja noch rund achthundert “Festliche Gaben”. Ja, bei meinem Drucker muss ich nochmals zweitausend Stück bestellen. Irgendwann wird sich mein Glücksrad auch wieder in Bewegung setzen. Das war bisher immer so gewesen. Es kann nicht lange stillestehen. Fasse Mut! Habe Vertrauen! Maria? Versuche jetzt nicht mehr an sie zu denken. Das geht nicht, denn ich will ihr, nein, ich muss ihr noch heute einen Brief schreiben. Ob sie wohl antworten wird? Und selbst der widerspenstige Gedanke an sie verhindert nicht das Ameisengekitzel in der Magengegend.

 

Wir aber wollen ihm bei der Abfassung seines mit daumennagelgrossen Lettern geschriebenen Briefes ein wenig inspirierend zur Seite stehen.