Auf Hamstertour

In den drei Baracken des Sommertals mögen etwa sechzig Häupter ihr Dach über dem Kopf gefunden haben. Für eine ganze Familie gibt es höchstens zwei Räume, die man sich so aufzuteilen hat, dass der eine davon als Wohnzimmer, Esszimmer und Küche eingerichtet wird, während der andere das Schlafzimmer und, weil er ungeheizt bleibt, auch gleichzeitig Speisekammer ist, weshalb auch hier und dort Mausefallen aufgestellt sind, deren zuweilen darin zappelnde Nager sich oft erst mühselig durch die hölzernen Böden und Wände durchzuarbeiten hatten, was jeweils nächtliche Geräusche verursacht, die den Kindern Angst bereiten und ihnen zuweilen für längere Zeit den Schlaf nehmen. Ja, das Brot, die Kartoffeln, die Äpfel nebst allem anderen Essbaren sind immer knapp. Man muss alles erkämpfen und das Erworbene auch gut verteidigen, denn mit leerem Magen will man nicht mehr sein müssen, und diesen hatte man oft vergeblich zu füllen gesucht in den grausigen Nachkriegsjahren, wo man als Flüchtling von einer Tür zur andern, von einem Bauernhof zum andern zog, um ein Stück Brot zu erbetteln. Solange man noch Teile seines geretteten Silberbestecks besass, war es verhältnismässig einfach, auch wenn man einen kostbaren Silberlöffel für Brot, Milch und ein paar Zwiebeln eintauschen musste. Aber bald besassen manche Bauern einige Kisten, gefüllt mit Silberbesteck nebst anderem, wie manchmal Uhren und sogar Eheringen, und: schliesslich kamen immer mehr von diesen „Hungerleidern“ und hatten nichts mehr einzutauschen. Sie wollten von uns alles umsonst haben. Sie stahlen uns die Wäsche von der Leine, so dass wir die Hunde immer frei herumlaufen liessen, damit sie jene Verlumpten gleich verjagen konnten, dieses Pack. Das Betteln wurde immer schwerer, und trotzdem trieb die Not die Meersburger Flüchtlinge ständig wieder dazu, auf Hamsterfahrten ihr Glück zu versuchen oder vielleicht auch mal, wenn möglich, weil ungesehen, in der Scheune oder im Schuppen ein paar Äpfel oder Kartoffeln „mitgehen“ zu lassen. Und jeden Monat stand der eine oder andere der beim Stehlen Ertappten vor der Anklagebank im Amtsgericht zu Überlingen. Und kehrte man spätabends nach langem Gehen über staubige oder schlammige Wege ganz entkräftet und müde von einer solchen Betteltour in seine Baracke zurück und hielt in den Händen eine Tüte mit ein paar Kartoffeln, Äpfeln oder sogar Eiern, so legte man sich nach verzehrtem Mahle mit einem zufriedenen Lächeln zu Bett, denn in all dem ewigen Kämpfen um Sein oder Nichtsein hatte man einen kleinen Sieg errungen, und die Anerkennung dessen war man sich von allen Barackenbewohnern gewiss. Jeder wusste, wie schwer es der Hunde wegen schon war, an die Bauernhöfe überhaupt heranzukommen. Und mancher erinnerte sich noch daran, wie Molar so einige Male von seinen Hamstertouren mit vollem Handwagen, von Wahrfried gezogen, zurückkehrte. Wie machte er es eigentlich nur, soviel Glück zu haben? Doch dies bleibt allen ein Geheimnis.

 

Lilia äussert sich an einem jener Winterabende ihrem Dichtergatten gegenüber folgendermassen: Wir haben fast nichts mehr zum Essen im Haus. Kartoffeln und Obst gehen zur Neige, von allein anderen abgesehen, und Geld haben wir auch nicht, um etwas zu kaufen. Du solltest mal wieder hamstern gehen. Wie wäre es?

 

Molar: Ahnte ich es doch, was sie von mir wollte. Mir sind solche Hamstertouren ganz und gar zuwider. Aber nur der Feige verzagt. Ja, das ist eine gute Idee. Ich werde morgen Wahrfried mitnehmen.

 

Und Wolf, der dabeisteht, denkt: Ja, das ist gut. Dieser Faulpelz soll mal raus und etwas tun. Ich racker’ mich ab und repariere das Dach, besorge Holz und säge es klein, aber er sitzt nur herum und macht alberne Verse. „Es wäre schon gut, wenn wir wieder einen Vorrat an Essbarem im Hause hätten. Aber ich glaube nicht, dass du Erfolg haben wirst. Denn die Zeitungen berichteten im letzten Jahr von einer Flüchtlingsfrau im Rheinland, die zu den allein im Haus befindlichen Bauersfrauen ging und diesen dann Gift in den Tee schüttete, worauf sie und zwei auf ihren Herbeiruf im Versteck wartende Komplizen alles Wertvolle „mitgehen“ liessen. Sie wurde aber geschnappt und sitzt jetzt im Zuchthaus, während ihre beiden Helfer entkamen. Aber wie du in der gestrigen Zeitung lesen konntest, wurde einer dieser beiden vorgestern nur wenige Kilometer von hier, in Stetten nämlich, von der Polizei festgenommen. Er arbeitete dort als Knecht auf einem Hof. Du kannst dir vorstellen, dass jetzt alle Bauern dieser Gegend nicht besonders gut auf Bettler zu sprechen sein werden. Ich würde dir raten, noch einige Wochen abzuwarten.“

 

Molar: Das macht das Hamstern natürlich noch schwieriger. Na, mich wird schon keiner für einen Mörder halten und Wahrfried gewiss nicht für einen Komplizen. Ich gehe trotzdem morgen los. Denn je schwieriger eine Sache aussieht, desto grösser die Herausforderung. Das Leben ist eben eine Herausforderung. Ihr muss man sich unerschrocken stellen.

 

Heute, an einem unfreundlichen und nassen Wintertag, sind Vater und sein neunjähriger Sohn schon unterwegs. Letzterer musste sich die für solche Hamstertouren aufgehobenen Spezialschuhe wie jenen ebenfalls für diesen Zweck ungeflickt belassenen Mantel anziehen, während unser Dichter noch einen Brief an den Lehrer schrieb, worin er jenem erklärte, dass eine „Unpässlichkeit“ es seinem Sohn nicht gestatte, am heutigen Tag die Schule zu besuchen. Jenes Schreiben gab er seinem Ältesten mit auf den Schulweg.

 

Wahrfried zieht den Handwagen, Molar schreitet, am Stock gehend, neben ihm einher. Der Stock ist eigentlich überflüssig, denn seine Knieverletzung, die er sich im letzten Kriegsjahr während der Rettung von Verwundeten in einem brennenden Krankenhaus beim Herabsturz eines Balkens zugezogen hat, ist längst ausgeheilt. Deshalb fragt ihn auch sein Sohn: „Lieber Papi, warum gehst du noch am Stock?“

 

Molar: Ja, weisst du, wenn man bei Leuten etwas erreichen will, muss man Mitleid erregen, sonst sind sie vielleicht hartherzig und geben nichts.

 

Wahrfried: Aber wer mir nichts geben will, von dem will ich auch nichts haben.

 

Molar: Ja, du hast gut reden. Versorge du erst einmal eine Familie mit sechs Kindern in Zeiten der Not.

 

Wahrfried: Aber du hast doch nur vier Kinder.

 

Molar: Ja, aber Mami ist doch meine Frau, und sie hat doch auch eine Tochter und eine Enkelin, die ebenfalls noch ein Kind ist. Und die beiden darf ich doch zu meinen vieren hinzuzählen?

 

Wahrfried: Aber Monika wohnt doch gar nicht mehr bei uns? ... War eigentlich unsere Mutti sehr lieb?

 

Molar: Ja, sie war ein guter Mensch und hat so gern anderen geholfen. Sie hat nie gelogen oder ein schlechtes Wort über andere gesagt. Sie war eine reine Seele, ja, und sehr schön war sie. Sie hat euch alle so sehr geliebt.

 

Wahrfried: Warum ist sie nur gestorben? Ich möchte auch manchmal sterben, um bei ihr zu sein.

 

Molar: Weine nicht. Man muss stark sein und sein Schicksal willig anpacken, nicht aber verzagen. Was soll es denn, Vergangenem nachzutrauern? Alles wird schon seinen Sinn haben, auch wenn wir ihn nicht erkennen können.

Beide nähern sich einem Bauernhof, und ein grosser Schäferhund kommt wild und drohend kläffend auf sie zugerannt.

 

Wahrfried: Hoffentlich beisst er nicht wie jener im letzten Jahr. Ich habe solch eine Angst.

 

Molar: Ja, ja, wer kommt denn da? Ist es der liebe Wolfi? Schau, ich hab’ dir etwas mitgebracht. Ja, ja, bist ein braves Tier! Da, schnapp es! Hoffentlich beruhigt er sich und nimmt den Knochen. Ja, bist ein gutes Tier, ein lieber Wolfi!

Somit betreten sie den auf einer Anhöhe gelegenen Bauernhof, nachdem sie den Handwagen in einiger Entfernung stehengelassen haben. Die dicke Bäuerin füttert soeben die Hühner vor dem Stall.

 

Molar: Grüss Gott, gnädige Frau!

 

Bäuerin: „Gnädige Frau“, so hat mich noch kein Mensch angeredet. Was wollen Sie? Betteln? Nein, nicht bei uns. Wir haben nichts zu verschenken. Erst am Weihnachtstag hatten wir einen von euch mit der Mistgabel vom Hof treiben müssen. Besser, ihr geht gleich wieder, ehe der Egon aus dem Stall kommt.

 

Molar: Liebe Frau, ich will ja auch nichts umsonst haben. Doch betrachten Sie einmal diese Bastschuhe, die ich hier in der Tasche habe. Sie sind so sehr geeignet, an kalten Wintertagen im Haus getragen zu werden, sie sehen so elegant aus und sind weich gefüttert. Hoffentlich sagt sie nicht wie die vorige Bäuerin, dass diese ihr zu fein seien und sie sowieso kaum in der warmen Stube sitze, dass sie dauernd im Stall zu tun habe. Probieren Sie sie doch mal an. Sie werden sehen, wie gut sie Ihnen stehen. Welche Schuhgrösse haben Sie, wenn ich fragen darf?

 

Bäuerin: Neununddreissig.

 

Molar: Ausgerechnet diese Grösse habe ich nicht mehr. Ja, Sie müssen dann Grösse vierzig nehmen, denn im Winter muss man noch dicke Socken tragen, damit die Füsse schön warm bleiben.

 

Bäuerin: Ja, sitzen tun sie schon, und schön aussehen tun sie auch. Aber Geld hab’ ich keines.

 

Molar: Ach, ein paar Eier und ein halber Sack Kartoffeln würden auch reichen.

 

Bäuerin: Na, warten Sie mal, ich schau’ einmal, was ich habe. Nach einigen Minuten kehrt sie mit einem zur Hälfte gefüllten Sack Kartoffeln zurück, worauf sie noch in den Hühnerstall geht und, wieder zurückkehrend, ein paar brühwarme Eier in die dargebotenen Hände unseres Gewitzten legt.

 

Bäuerin: Ich hoffe, dass es reicht.

 

Molar: Es ist sehr lieb von Ihnen. Sie sind eine gütige Frau, und Gott wird es Ihnen dereinst sicher lohnen. Übrigens, dies ist mein Zweitältester von sechs zu versorgenden Kindern. Er hat seine Mutti verloren, als er fünf Jahre alt war. Wir haben all unseren Besitz im Osten lassen müssen. Wir mussten vor dem Russen fliehen. Wir haben oft vor Hunger und Verzweiflung geweint, und wir wissen auch jetzt noch nicht, wie es weitergehen soll. Ja, ich habe es schwer, besonders, dass ich genötigt bin, am Stock zu gehen und mir keiner eine Arbeit geben will. Und eine Invalidenrente bekomme ich nicht. Sehen Sie, mein Sohn hat kein richtiges Schuhwerk, der Zeh schaut hervor. Er bekommt nasse Füsse, und die verursachen ihm oft Fieber, und er liegt dann in einer ungeheizten Baracke, und wir denken, dass er nicht überleben wird. Denn einen Arzt können wir nicht bezahlen. Unter seinem zerlumpten Mantel hat der arme Junge nur ein Leibchen an, zu Jacke und Pullover reicht es nicht. Und gerade heute hat er Geburtstag, und wir haben nichts, was ich ihm schenken könnte. Ja, Sie werden verstehen, dass man als armer Vater manchmal weinen könnte.

 

Bäuerin: So, Geburtstag hast du heut’, mein Kleiner? Na, wie heisst du denn?

Und Wahrfried, der verschämt zu Boden geschaut hat, blickt jetzt verlegen und wehleidig auf und nennt seinen Namen.

 

Bäuerin: Ja, wart’ einmal, ich will nochmals ins Haus gehen und sehen, ob ich etwas für dich zum Geburtstag finden kann.

Nach einer Weile kehrt sie mit einer grossen Wurst, einem halben Kuchen und einer alten Jacke zurück, und Wahrfried nimmt das ihm Dargereichte nebst den Geburtstagswünschen mit einem „Herzlichen Dank, liebe Frau“ entgegen.

Auf ihrem Heimweg am späteren Nachmittag beginnt es, wie üblich zu dieser Jahreszeit, schon früh zu dunkeln. Wahrfried sagt zu seinem ihm so riesengross erscheinenden Vater: „Warum muss ich immer Geburtstag haben?“

 

Molar: Ja, das ist wichtig, damit wir leichter etwas bekommen können.

 

Wahrfried: Aber das ist doch gelogen. Und man darf doch nicht lügen.

 

Molar: Nun ja, du hast ja recht. Aber dies ist ja nur so eine kleine Hilfslüge. Sie schadet ja niemandem und verhilft den anderen nur dazu, sich barmherzig geben zu dürfen.

 

Wahrfried: Trotzdem, man darf nicht lügen.

 

Der steinerne Weg, der zu den Baracken führt, lässt den nun vollgepackten Handwagen mit grossem Gepolter holpern, so dass einige Flüchtlinge beim geräuschvollen Herannahen der beiden Heimkehrenden sich der Neugier halber mit Taschenlampen versehen und sich vor der Bröckelberger Baracke einfinden. Sie kommen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus: Zweiundzwanzig Eier hat er erstanden, mindestens zwei Zentner Kartoffeln und einen Zentner Äpfel, dazu zwei ganze Schinken, weiterhin Würste, Brote, Kuchen und dann noch drei Jacken, zwei Pullover, drei Paar Schuhe, einige Hemden und eine Hose. Und Geld soll er auch noch bekommen haben. Dieser Dichter! Warum hat e r  nur so ein Glück, und warum haben wir es nicht?

Vater und Sohn haben aber niemals verraten, auf welche Weise sie zu solchen Schätzen gekommen sind.