Du musst verkaufen

Molar ist gerade dem Bett entstiegen. Er schaut auf die Uhr: Die Kinder müssen bald aus der Schule kommen. Und ich bin noch nicht gewaschen und rasiert. Ja, gestern nacht ist mir noch ein gutes Gedicht gelungen. Ich will es noch einmal lesen. Gähnend zieht er sich den blauen Bademantel über und begibt sich, den herabhängenden Teppich zurückschlagend, nach nebenan, wo er sich an seinen mit Papieren, Akten, Schreibstiften und kleineren Erinnerungsgegenständen voll beladenen Schreibtisch setzt und den zuoberst gelagerten Papierbogen zur Hand nimmt und Zeile für Zeile über dessen daumennagelgrosse Lettern seine Blicke gleiten lässt, die, je weiter sie den Zeilen folgen, deutliche Bewunderung und Zufriedenheit über das Geleistete ausdrücken. Ja, das ist mir gelungen. Seine Entstehung nahm eine ganze Nacht in Anspruch. Aber wie heisst es doch: „Ohne Fleiss kein Preis.“ Wie schön wäre es, wenn ich jede Nacht, während die anderen schlafen, mich hierhersetzen könnte. Aber ich bin ein geplagter Mann, der an so manchem Tage das Brot für die Kinder mit weltlichem Einsatz verdienen muss, so dass ich meist auch in der Nacht zu keiner schöpferischen Leistung mehr fähig bin. Und richtig starker Kaffee, der mich „aufmöbeln“ könnte, ist auch schwer zu bekommen. Ach, wenn ich doch nur ganz meinem Beruf als Dichter leben könnte! Ja, wenn ich noch Junggeselle wäre, keine Frau, keine Kinder hätte, dann wüsste ich es schon einzurichten, dass ich ganz für die Dichtung leben könnte. Das wäre wunderbar, noch ganz frei zu sein. Was würde ich dann alles leisten können!

 

In seine Tagträumereien verstrickt, bemerkt er nicht, dass seine Frau ins Schlafgemach getreten ist. Er wird auf sie erst aufmerksam, als er ihre Stimme vernimmt: „Guten Morgen, Hans Winfried! Ich sollte lieber sagen: Guten Mittag!“ Sie nähert sich ihm, dem sogleich ein „Guten Morgen, liebes Lilalein! „ entfährt, gibt ihm einen Kuss auf die unrasierte Wange, erblickt dabei seine nicht vom Bademantel völlig bedeckten Brusthaare und fährt mit ihrer Hand streichelnd über diese, während sie liebkosend in sein Ohr flüstert: „Hast du eine produktive Nacht verbracht, mein Guter?“ „Lilalein, hör doch, was ich zu Papier gebracht habe!“

 

Und nun liest der Wortebanner mit dröhnender Stimme das in aller Stille Vollbrachte, und zwar so laut, als ob es gälte, ein vollbesetztes Auditorium zu beglücken (und sitzen denn, von uns beiden einmal abgesehen, nicht bald Tausende in ihrem Auditorium, das in der eigenen Vorstellung beheimatet ist, und hören ihm zu?)

 

DEM UNBESIEGBAREN

 

0, Meer,
wie sehr
ich dich liebe.

Meine Triebe
verflüchten
vor dir,

wenn ich steh’
und seh’
deine Gewalt.

Keine Gestalt
kann befehlend
dich zwingen.

Das Siegen gewohnt
schonst du
keinen Gegner.

Wenn ein Verweg’ner
dir trotzt,
so muss er bereu’n.

Niemals brauchst du
zu fürchten
die Kräfte des andern.

Was dir gehört,
bleibt ungestört
in deiner Mitte.

Was ich erbitte,
ist kein Sieg.
Es ist ein Schau’n,

ein Grau’n
vor allein
dem Unbesiegbar - sein.

 

Lilia: Warum muss er sich denn immer beim Rezitieren auf ein unsichtbares Podest stellen wollen? (Wenn sie nur ahnen würde, dass sie selbst auf der Bühne unseres imaginären Theaters steht!) Ich kann wegen des lauten Deklamierens gar nichts von dem Sinn des Gedichts verstehen. „Unbesiegbar sein“, ja, das Leben besiegt uns alle. Wir sind stündlich Besiegte, auch wenn wir hin und wieder glauben, Gewinner zu sein. Das Gedicht ist sehr schön. Aber reich wird es dich auch nicht machen und die Mägen der Familie somit nicht füllen können. Lieber Wini, du musst wieder auf Verkaufsfahrt gehen. Wolf wird dir alle mitzunehmenden Schuhe zusammenpacken. Du hast im Herbst eine erfolgreiche Fahrt nach Frankfurt unternommen. Warum fährst du also nicht nochmals dorthin?

 

Molar: Nein, nicht nach Frankfurt. Ich glaube, dass München zum Schuhverkauf viel geeigneter ist. Ich kann dann gleich nach einem Verleger für meine Gedichte Ausschau halten. Sie will mich ja nur deshalb nicht nach München schicken, dassihr dummerweise einmal eine Karte von einer Münchner Freundin in die Hände gefallen ist. Ja, das war eine heikle Szene.

 

Lilia: Nein, München scheint mir für ihn zu gefährlich zu sein. Ich glaube, lieber Wini, du solltest wirklich nach Frankfurt fahren, denn dort haben die Leute Geld.

 

Molar: Nein, nein, ganz gewiss nicht. In München haben die Leute mehr Geld, und, was ganz entscheidend für den Schuhverkauf ist, dort ist es immer noch einige Grade kälter, und somit ist man eher bereit, sich ein Paar besonders warme Hausschuhe zuzulegen. Verlasse dich auf mich, ich kenne mich im Verkaufen gut aus. Hoffentlich gibt sie nach.

 

Und Lilia gibt nach: Er hat mir ja versprochen, keine Beziehungen mehr zu jenem Mädchen aufzunehmen. Und inzwischen wird sie ja wohl auch einen anderen Liebhaber gefunden haben. Meinetwegen. Fahre also nach München. Aber du sollst bald wieder zurückkommen, denn ich muss meine Arbeiterinnen bezahlen, auch wenn diese nun wohl eine Woche auf ihren Monatslohn werden warten müssen.

 

Molar: Ich komme sofort zurück, wenn alle Schuhe verkauft sind. Wie viele Paare kann ich denn mitnehmen?

 

Lilia: Wir haben gut zweihundert Paare gelagert. Wenn du, sagen wir, hundert Paare mitnehmen könntest, dann...

 

Molar: Nein, nein, lass Wolf nur alle zweihundert einpacken. Ich verlasse mich auf mein Talent und das mir in solchen Dingen nur selten sich versagende Glück. Man muss bei allen Unternehmungen ohne Zögern und mit grossem Schwung das eigene Rad zum Drehen bringen, sonst schafft man es nie, den Berg hinaufzukommen.

 

Gestattest du, dass wir an dieser Stelle  eine zeitliche Verschiebung vornehmen und uns in die Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nach Berlin zurückversetzen, um der zwanzigjährigen Lilia ein wenig aus unserer geistigen Loge zuzusehen?

 

Ja, das scheint eine gute Idee zu sein. Aber wieso ist sie schon 1918 zwanzig Jahre alt, denn meiner Berechnung zufolge müsste sie fünf Jahre jünger sein?

 

Nach dem letzten Krieg bot sich vielen die Chance, sich zu verjüngen oder gar den Namen und Geburtsort zu wechseln. Man brauchte nur in Begleitung von zwei mitgebrachten Zeugen zu beeidigen, dass man in einem jetzt „leider“ vollkommen zerstörten Ort des deutschen Ostens geboren worden war und bekam daraufhin eine Kennkarte mit den angegebenen Personalien. So mancher hat von dieser Versteckspielmöglichkeit Gebrauch machen können und das aus guten Gründen.

 

Aber Lilia? Musste sie auch Versteck spielen?

 

Ihr Grund war die Eitelkeit. Warum sollte sie sich nicht ein wenig verjüngen? Ist doch im Grunde jedes Altwerden nur Schein, denn im ewigen Tag bleiben wir auch ewig jung.