Der Notzeitdichter

Wir besuchen eines Nachts - es ist schon nach zwei Uhr -unseren Barackendichter bei seiner schöpferischen Denk- und Schreibarbeit. Vor ihm liegen die vielen Entwurfsskizzen und Probedialoge zu seinem noch zu fertigenden Drama. Wir wollen ihm als inspiratores noctis ein wenig Zuversicht für sein hartes Ringen um die Dichtung einflössen, damit seinen Hoffnungen wieder neuer Mut zufliessen möge, denn ohne sich manchmal den hochfliegenden Ideen - und seien sie noch so wagemutig und töricht - hinzugeben, hat noch kein Dichter bestehen können. Utopische Erfolgsvisionen als Ersatz- oder Zwischenbelohnung eines dichterischen Bemühens sind doch eigentlich das, was ihn zu immer erneuten Höhenflügen anspornt und zugleich als notwendiger Ausgleich für manch unliebsame Misslichkeit des Lebens zu gelten hat.

 

Ja, wenn erst einmal mein „Perikles“ fertiggestellt ist, dann wird mein Durchbruch als Dichter manifestiert sein, und jede deutsche Literaturgeschichte wird später meinen Namen erwähnen müssen. Vielleicht werde ich sogar noch zum Ehrendoktor irgendeiner Universität erhoben, und mein Geburtshaus in Gotha wird als Museum eingerichtet. Und meine Kinder werden einmal von den auf sie zu überschreibenden Tantiemen und von meinem Nachlass leben können und also entschädigt werden für alle Mühsal, die jetzt leider auf sie gehäuft werden muss. Ja, das würde mich ganz besonders freuen. Hermann kann dann die Erbschaftsreglung samt der Tantiemenverteilung übernehmen, während Wahrfried als Nachlassverwalter aller meiner dichterischen Bestrebungen wirken soll. Vielleicht wird er auch einmal meine Biographie schreiben. Ja, dass wird viel zu berichten sein, führe ich doch ein sehr bewegtes Leben. Später werde ich berühmt sein und wie ein funkelnder Stern am deutschen Dichterhimmel stehen. Ja, wie sagt doch der Lateiner gleich: per aspera ad astra (durch Mühsal zu den Sternen). Aber erst muss ich mich fleissig bemühen, muss täglich Schlachten um die Behauptung meines Dichtertums kämpfen. Gross zu werden wird einem nicht leichtgemacht. Man muss mit zähem Willen schaffen und darf nicht verzagen. Aber von meinem eigentlichen Dichterruhm bin ich noch Dimensionen weit entfernt. Noch habe ich ausser einigen gelungenen Gedichten nichts zu meiner Unsterblichkeit getan. Dieses Drama muss erst einmal den Grundstein dafür legen. Es muss mein „Vor Sonnenaufgang“ (Drama von Gerhard Hauptmann) werden. Ja, bisher steckt mein „Perikles“ noch in den Kinderschuhen. Ich komme mit ihm nicht so recht voran. Mir fehlen noch mehrere Einzelheiten aus seinem Leben. Ich müsste Zeit haben, mich in eine Bibliothek zu vergraben und dort in den Quellen zu forschen. Auch muss ich noch viel mehr Kenntnis vom Griechentum der Klassischen Periode haben. Ich müsste viele Dramen des Perikleischen Zeitalters lesen, um in meinem Drama auch das Wesentliche jener Zeit widerspiegeln zu können. Eine wichtige Frage bleibt mir noch unbeantwortet, warum Perikles, der „erste“ Kosmopolit und Friedensstifter par excellence, trotzdem für einen Krieg mit Sparta plädierte. War doch sein staatsmännisches Können immer darauf gerichtet, durch Verhandlungen zu siegen und nicht mit Gewalt die verfolgten Ziele zu erreichen. Sicher wurde er auch als General in einige kriegerische Verwicklungen verstrickt. Aber seine Tendenz blieb doch immer: Freundschaft und Frieden mit allen anderen Staaten. Ja, er brauchte den Frieden, um Athen zum Mittelpunkt der griechischen Kultur zu erheben. Vielleicht ahnte er, dass Athen unter ihm ausersehen war, Kristallisations- und Kulminationspunkt der schönen Künste aller Zeiten zu werden. Er förderte die Dichter, Philosophen, Bildhauer und Architekten. Er beschaffte für sie unermüdlich die Gelder. Er rief sie von allen Küsten Griechenlands herbei. Ja, und wenn man bedenkt, wer zu seiner Zeit alles in Athen wirkte, dann könnte es einem den Atem verschlagen. Sokrates, Protagoras, Anaxagoras, Demokritos, Pindar, Bakchylides, Aischylos, Sophokles, Euripides, Aristophanes, Phidias, Herodot, Thukydides und viele andere. Es ist gerade so, als ob auf einem Raum, kleiner als das heutige München, Kant, Schopenhauer, Hegel, Nietzsche, Dante, Petrarca, Shakespeare, Goethe, Schiller, Ibsen, Michelangelo, Carlyle und Ranke leben würden. Man muss sich das doch erst einmal vorstellen. Das ist einfach ein einmaliges Kulturereignis, was sicher nicht auf dieser Erde in selbiger Konzentration wiederholbar ist. Und Perikles, der sie alle beschirmte und vom Volk fast wie ein Hitler verehrt wurde, nützte dieses Volksvertrauen nicht zu einem egoistischen Machtstreben aus. Nein, er verzichtete darauf, ein Diktator zu werden, um die Demokratie zu erhalten. Ja, sie war damals etwas ganz Neues in einer Welt, die sonst nur von Herrschern und meist mittels Gewalt regiert wurde. Die Volksversammlung durfte über die Geschicke abstimmen. Und jene Demokratie, vielleicht das kühnste staatspolitische Unterfangen seit Bestehen der Welt, wurde zugleich zum Höhepunkt der Weltkultur. Einfach unglaublich! War das ein blosser Zufall? Musste das nicht von höherer Warte aus geplant gewesen sein? Ja, wir schauen immer noch mit Ehrfurcht auf dieses Zeitalter des grössten demokratischen Staatsmannes und können weiter von dieser Glanzzeit in Kunst, Philosophie und Politik lernen. Die Grösse dieser Kulturblüte, jene Einmaligkeit, muss ich in meinem Drama verdeutlichen. Der Zuschauer muss innerlich „gepackt“ sein von der damaligen Kulturballung und ihrer Botschaft: Für die Kunst lasst uns streiten, nicht aber für Landeroberungen! — Das Zeitalter des Perikles war ein Wettkamp des Geistes, wie Olympia ein Wettkamp der Körper war. Doch beide galten der olympischen Idee, alle Menschen zu verbrüdern. Leider gab es seit 1936 keine Olympischen Spiele mehr. Der Verbrüderungswille der heutigen Menschheit lässt noch auf sich warten. Ja, Perikles, der hatte doch wenigstens eine Aspasia, seine Geliebte, die ihm Kraft gab für all sein energievolles Vorgehen in den Staatsgeschäften. Aber ich? Ich darf niemanden lieben. Meine anfängliche Liebe zu Lilia - oder war es bloss Bewunderung? -ist schon längst zerronnen. Ohne die Liebe zu einer Frau, welche meine Sinne befeuern und meine Seele emporheben könnte, und ohne die Gegenliebe dieser Geliebten empfangen zu dürfen, bin ich als Dichter ein Wrack. Ich befinde mich jetzt als verheirateter Dichtervater in einer Sackgasse. Ich weiss nicht, wo ich einen Ausgang finden soll. Ja, wenn ich noch auffliegen könnte, dann wüsste ich mich schon aus dieser Enge zu befreien. Die Liebe und Widerliebe sind die beiden Flügel des Dichters. Lilia liebt mich. Aber was nutzt ein Flügel, wenn der andere gebrochen ist und sich nicht bewegen kann? Ob ich versuchen sollte, diesen gebrochenen Flügel zu schienen und ihn somit einer eventuellen Heilung entgegenzuführen? Ach, ich bezweifle, ob dies gelingen würde. Ich sehne mich ja doch im Grunde nach zwei neuen Flügeln. Ob sie mir noch in diesem Leben beschieden sein sollen? Selbst wenn ich keine mich in die Höhe hebenden Schwingen besässe, will ich als Dichter nicht aufgeben. Nein, ich werde für die Dichtung weiterkämpfen*. Ja, so habe ich es auch meinem Freund damals im Krieg geschworen. Der seelisch zerstückelte Mensch von heute muss wieder zu einer gesunden Seeleneinheit finden. Die Seele, welche die deutschen Hitler verschrieben hatten, muss wieder umgepolt werden. Jetzt ist die beste Zeit des Wirkens für mich als Dichter gekommen. Die Menschen in unseren vier Zonen und in den meisten Randstaaten sind noch zutiefst von dem Vergangenen erschüttert. Sie können noch nicht fassen, was wirklich mit ihnen passierte, wohin sie geführt und wozu sie verführt wurden von „ihrem“ Führer, der sich als „Verführer“ entpuppte. Jetzt brauchen die deutschen neue Werte, Werte der Zuversicht, des Selbstvertrauens zu einem Neubeginn, ja, das Vertrauen zu ihrem Höheren Ich. Der Mensch muss unter den Trümmern seiner Seele nach den inneren Werten suchen. Hat er diese erkannt, so muss er diese Trümmer abräumen, damit das Schöne und Gute seines „höheren“ Inneren wieder aus dem Boden hervorspriessen kann. Er hat diese schöne Rose seines inneren Gartens verkommen lassen und hat dort die „braunen“ Samen des wild emporschiessenden Unkrauts, die von jenem ungetümen Sämann als alleinseligmachendes Heilkräutermittel ausgegeben wurde, angepflanzt und es als sein Teuerstes gepflegt und gehegt, bis es ihn selbst überwucherte. Ja, die deutschen hatten Hitler ihre Seele vermacht. Es war ein allgemeiner Ausverkauf der Seele gewesen. Jetzt müssen wir in dieser Phase des Mit-sich-selbst-Rechtens unsere direkt oder indirekt begangenen Fehler einsehen lernen und unseren Weg zu den inneren Werten finden. Meine Gedichte müssen Aufrufe sein, um mitzuhelfen bei dieser Ichfindung. Mein Dichterdienst muss ganz der Menschheit geopfert sein. Nun, es ist ein schweres Unterfangen, kommen mir doch ausser meinem Willen und der gelegentlichen Inspiration keine anderen Mittel zur tatkräftigen Verwirklichung zu Hilfe. Mit meiner Lyrik, selbst wenn sie gedruckt würde, ist keine Familie zu ernähren. Und mein Drama? Nun, das kann noch lange währen, bis es zur Bühnenreife gediehen ist. Ja, es ist schwer, ein Dichter in der Notzeit zu sein. Viel lieber hätte ich im perikleischen Athen gelebt und dichtend gewirkt. dassspornte der staatsgeförderte Wettkampf die Künstler an, um die strahlendsten Lorbeerzweige der Kunst zu ringen.

 

Jetzt ist es schon wieder drei Uhr. Und ich habe immer noch nicht auch nur eine einzige Zeile meinem Drama hinzugefügt. Ich werde mir jetzt erst einmal einen starken Kaffee kochen. Dann bin ich wieder ganz munter und kann konzentriert arbeiten. Wenn ich doch nur noch mehr über Perikles wüsste. Ich brauche eine Handlung, die sich durch das ganze Drama bis zu einem gewaltigen Schluss steigert. Das ist es eben, was mir den grössten Kummer bereitet. Ich habe keine Handlung. Ich weiss zu wenig über ihn im einzelnen. Ja, in der Bibliothek meines Schwiegervaters standen noch die Werkausgaben fast aller griechischen Historiker und Klassiker. dasshabe ich mir durch Gerdassso manches ausleihen können. Ja, mit Gerdasswäre ich damals gerne nach Griechenland gefahren. Aber dann kam das erste Kind, dann der Militärdienst und schliesslich ging schon der Krieg los. Ich erinnere mich noch ganz genau, als wir beide im Olympiastadion in Berlin bei der Eröffnung der Olympischen Spiele zugegen waren...