Auf blauem Papier

Unser hart geprüfter Dichtermann steht am Montagnachmittag klopfenden Herzens - wie könnte es anders sein? - im Eingang des Lochhamer Bahnhofes. Das Wetter ist auf Tief gestellt, und es symbolisiert zugleich das Kurventief unseres Bastschuhkavaliers, der in den Regen hinausstarrt und auf das Herannahen seiner... - ja,wie soll er sie jetzt nennen? - “dichtenden Jungfrau” wartet. Sein Kopf brummt. Und des öfteren muss er sein Taschentuch zur geröteten Nase führen, um sie vom rinnenden Geschleim zu leeren. Sein Mantel ist nass geworden, und der Hut ist durchweicht. Sie wird gleich kommen. Ich habe das ungute Gefühl, dass sie sich heute von mir auf immer verabschieden wird. Ich fühle mich so niedergeschlagen. Meine ganze Lebensenergie scheint wie aus einer löchrig gewordenen Blumenvase davongeronnen zu sein. Heute morgen habe ich dem Herrn Pfaff die versprochenen eintausenddreihundert Mark gebracht. Ja, der hat gestaunt. Und als er wissen wollte, woher ich das Geld habe, dasshabe ich ihm von meinem an der Front kämpfenden Dichtertum erzählt. Er war von all dem sehr angetan und versprach, mir irgendwann zu einer Dichterlesung zu verhelfen. Trotz meiner Verkaufserfolge fühlte ich, wie meine Schwingen in den letzten Tagen immer müder wurden. Das Glücksrad hatte begonnen, sich für mich immer langsamer zu drehen. Jetzt scheint es ganz stille zu stehen. Ja, ich dachte bei meinem Brückenbaueinsatz am Wochenende immer daran, dass Maria mich verstossen werde. Nun, es ist wahr, ich habe in meinem Leben in manchem gefehlt. Aber ich war doch immer dabei auch beseelt gewesen, nur Gutes tun zu wollen. Die Zeiten der Not haben mich so manches Mal zur Notbremse oder zu Notlügen greifen lassen. Bin ich deshalb aber ein schlechter Mensch? Vielleicht! Aber mein Innerstes trinkt von der Quelle der reinsten Liebe, und diese gibt mir Kräfte, auch Liebe weitergeben zu können. Ja, und ich fühle es, Maria trinkt von der gleichen Quelle. Wir beide sind “Quellenkinder” der Liebe. Ich sollte einmal ein Gedicht darüber schreiben. Aber nach Dichten ist mir jetzt nicht zumute. Ja, der prachtvolle Herr Wallner im Grünwald Hotel, der hat sich gefreut, als er mich wiedersah und ich ihm das Trinkgeld überbrachte. Der Gute hat eine kranke Mutter und befindet sich in einer finanziellen Notlage. Ich hoffe, dass ihm mein zusätzlicher Notgroschen (200 Mark) ein wenig unter die Arme greifen kann. Aber dasskommt ein Taxi herbeigefahren. Ich sehe Maria darin. Lieber Gott! Steh mir bei, dass ich sie nicht verliere.

 

Sobald sich die zwei - Wie sagte er noch? “Quellenkinder”! Ach ja, danke. - in einem des Regens wegen nur spärlich besuchten Gräfelfinger Café niedergelassen haben, kann unser Ex-Bodenseegrussverkäufer mit seiner im Taxi angekündigten “Überraschung” nicht mehr warten. Er zieht die zwei mit Schleifen verzierten Bastschuhe aus einer feucht gewordenen Tüte, kniet sich vor seiner Angebeteten nieder, streift ihr die nassen Lederschuhe von den Füssen, obwohl sich eine Stimme von oben etwas widerstrebend mit einem “Aber doch nicht hier vor allen Leuten!” wehrt, und stülpt diesen die ebenfalls nass gewordenen “Bodenseegrüsse” über, worauf seine nach oben gerichtete Frage “Sitzen sie gut?” mit einem bejahenden Lächeln beantwortet wird. Der Überglückliche fordert nun seine Mokassinbeschuhte auf, einige Schritte zu gehen, während zwei Damen am Nebentisch - Wir sind diesmal nicht mit ihnen zu verwechseln! Vielleicht gehören sie zur Konkurrenz? - neugierigen Blicks die sich im weichen Gelatsche Wiegende beäugen und, als diese ihre Zufriedenheit kundgibt, ebenfalls sich ein aufatmendes Lächeln zuwerfen. Und jene spähen auch weiterhin versteckten Augs auf unsere beiden Kaffeetrinker, und sich hin und wieder mit Seufzern ansehend, geben mit ihren Mienen somit einen Spiegel dessen ab, was am Nachbartisch vor sich geht.


Molar: Hast du deine Gedichte mitgebracht?

 

Maria: Ja. Ich habe einige für dich gestern noch zu später Stunde ins reine geschrieben. Sie können natürlich kaum mit deiner Lyrik verglichen werden, sind sie doch, wie ich schon erwähnte, kinderleicht und ohne Anstrengung entstanden. Ich muss gestehen, dass ich mir auch nicht anmasse, mich als ihre Autorin zu bezeichnen, denn sie sind ja ohne mein Zutun auf die Welt gekommen. Ich habe ihnen nur zur Geburt verholfen. Ob aber die Empfängnis auch unbefleckt war, weiss ich nicht. Einige jener Geburten haben schon in meiner Schulzeit oder zur Zeit meiner Flucht stattgefunden, andere sind erst neueren Datums.

 

Molar: Auch du bist Flüchtling? Ich dachte, du seist Münchnerin?

 

Maria: Nun, das ist eine verwickelte Geschichte. Aber davon will ich jetzt nicht berichten.

 

Molar: Ja, lass uns nun auf deine Gedichte zu sprechen kommen.

 

Maria: Nein, auch das jetzt bitte nicht. Nimm sie mit, wenn du magst, und lies sie später. Ich bin jetzt nicht dazu aufgelegt, über Gedichte zu sprechen. Vielmehr muss ich dir darlegen, zu welchem Entschluss ich während des Wochenendes bezüglich unseres Verhältnisses gekommen bin.

Die beiden Damen am Nebentisch sind ganz Ohr, und ihre Stirnen legen sich in Falten, als sie den die Urteilsverkündigung erwartenden “Bedauernswerten” mit seinen zitternden und schwitzenden Händen beobachten.

 

Maria: Wir dürfen uns nicht enger zusammenfinden, sei es psychischer oder physischer Art. Du bist verheiratet. Du gehörst deiner Frau an. Wir versündigen uns vor Gott, wenn wir weiterhin zusammenkommen sollten. Heisst es nicht in der Bibel: “Begehre nicht deines Nächsten Weib”? Ebenso meint es auch: “Begehre nicht deiner Nächsten Ehemann”! Deine ganze Liebe hat hinfort deiner Frau allein zu gelten.

 

Molar: Aber ich liebe sie doch nicht. Kann ich denn etwas dafür?

 

Maria: Du hättest wissen müssen, was du tatest, als du sie zur Frau nahmst.

 

Molar: Ja, meine Kinder brauchten eine neue Mutter. Wo in der Welt hätte ich denn eine Frau finden können, die einen armen dichtenden Flüchtlingswitwer mit vier Kindern geheiratet hätte? Durfte ich, als sich eine Frau dazu bereit fand, sie aus egoistischen Gründen zurückstossen, während meine sorgende Liebe doch in erster Linie meinen Kindern zu gelten hatte?

 

Maria: Der arme Hans Winfried. Ich würde ihn am liebsten in meine Arme nehmen und küssen. Aber ich muss hart bleiben.

 

Beide Damen am Nebentisch greifen zum Taschentuch. Ihr Tee ist schon längst in den Tassen kalt geworden.

 

Molar: Darf ich denn nicht mehr lieben, nur weil ich den Kindern zuliebe handelte?

 

Maria: Aber deine Frau ist doch bestimmt nur aus Liebe zu dir Mutter deiner vier Kinder geworden? Du tätest ihr doch jetzt weh, wenn sie wüsste, dass du dich heute mit einer anderen Frau triffst.

 

Molar: Sie weiss es ja nicht. (Jedoch sie wird es einmal später wissen, dasskein Geheimnis jemandem für immer verborgen bleibt.)

 

Maria: Aber sie wird es vermuten. Frauen haben einen sechsten Sinn für diese Dinge. Ich darf nicht weich werden, sonst heule ich los. Wie hilflos er aussieht, wie ein Kind. Ich muss stark bleiben. Ja, vielleicht auch ein wenig heftig. Ich muss bald weg von hier. Nach Hause. Dort kann ich mich ausweinen. Nur keine Tränen vor ihm.

 

Molar: Geliebte Maria! Ich bin ein Dichter. Wenn ich nicht mehr lieben darf, dann kann ich auch nicht mehr dichten.

 

Maria: Trotzdem. Auch Dichter dürfen sich nicht vor Gott versündigen. Ich gehe!

 

Molar ihr in den Mantel helfend: Liebste, gehe noch nicht!

 

Maria: Merkst du denn nicht, dass ich ganz schnell fort muss, und zwar alleine? Auf Nimmerwiederseh’n!

 

Und sie dreht sich tapfer um und geht in den Regen hinaus, wo viele Tropfen aus ihren Augen auf die schon nassen Wege fallen.

Unser Bestürzter und In-die-Schranken-Gewiesener weiss nicht, was er jetzt tun soll. Er ist noch wie gelähmt. Er geht schleppenden Gangs und tief aufseufzend an zwei schluchzenden Damen vorbei zu seinem Tisch, wo der erst zur Hälfte gegessene Kuchen noch auf sein Aufgezehrtwerden wartet. Aber der nassen Augs Beäugte legt ein Fünfmarkstück neben den Teller, ergreift die losen Gedichtzettel der Davongeeilten, wobei einer von diesen zu Boden fällt, ohne selbst von den vier Späheraugen, die zu sehr mit der trauerumlagerten Miene des Verurteilten beschäftigt sind, in seinem Fallen entdeckt zu werden, und zottelt, seinen Mantel und Hut vom Haken nehmend, nasepustend zur Tür hinaus, ohne, wie sonst wohl üblich beim Hinausgehen, sich hutlüpfenderweise in echter Brückenbauermanier mit einem allen vernehmlichen “Auf Wiedersehen!” oder “Grüss Gott” zu verabschieden.


Die zwei Damen sitzen sich tränenden Augs gegenüber, unschlüssig in ihrer Ratlosigkeit darüber, wie wohl Brücken der Liebe und des Trostes zu dem Gefolterten zu zimmern gewesen wären. Und als die Serviererin schon den Nebentisch abgeräumt hat, fällt der dickeren Dame Blick wie zufällig auf ein blaues Blatt Papier, das unter dem Tisch bisher unbemerkt liegen geblieben ist. Nachdem sie es ahnungsvoll aufgehoben hat, rücken die beiden Mitfühlenden zusammen und lesen das von der “Hartherzigen” stammende Gedicht.

 

Wollen wir uns vielleicht über ihre Schultern beugen, um mitlesen zu können?

 

Das Gedicht ist ja ganz vorzüglich!

 

Ja. Sollen wir es für unser Buch kopieren, bevor die Damen es in ihren Handtaschen verschwinden lassen, um es später in einer Privatschatulle irgendeines wurmstichigen Schreibtisches zu verbergen, wo das blaue Papier leicht vergilben könnte?

 

Ja, unbedingt! Doch frage ich mich nur, ob unser Buch auch der würdige Platz ist, einen solchen Diamanten aufzunehmen?

 

Deine Frage ist berechtigt. Aber bedenke: Kann eine Rumpelkiste, in welche einige hochkarätige Edelsteine hineingelegt werden, nicht dadurch schon in eine Schatzkiste verwandelt werden?

 

STILLER ANBEGINN

 

Alles, was in meinen Liedern steht,
Fühlt sich wie ein Träumen an.
Alles, was durch meine Sinne geht,
Hör’ ich mit dem Herzen an.

Höre auch, was ihr nicht sagtet,
Jede Silbe, jeden Ton.
Wage auch, was ihr nicht wagtet,
Das Erfühlte schreib’ ich schon.

Alles, was ich fühl’ und bin,
Ist der stille Anbeginn
Zu dem Wahren, Ewig-Schönen,
Ungenannten, Unbekannten,
Dessen Kind und Lieb’ ich bin.