Neujahrsnacht

Es schlägt soeben zwölfmal vom Kirchturm der Meersburger Stadtkirche, doch bleibt dieser Zeithinweis allen unvernehmbar - ausser uns natürlich -, denn die grossen Glocken läuten zur gleichen Zeit mächtig das neue Jahr ein. Es tönt über die Ober- und die Unterstadt, es tönt hinaus über den Bodensee, es tönt hinauf über die mit Reben bepflanzten Hänge, an denen die Weinstöcke in ihrem Winterschlaf von den wiederzugebärenden Trauben träumen mögen, es tönt über diese Hänge hinein in das von Buchen- und Eichenbäumen umfriedete Sommertal, wo neben dem Sportplatz die drei Flüchtlingsbaracken stehen, in denen man jetzt die Gläser hochgehoben hat, die teils mit Bier, teils mit billigem Wein oder mit Apfelmost gefüllt sind, und sich ein gutes neues Jahr wünscht, denn dem alten trauert keiner nach, und das neue, ja, es muss, es kann nur besser werden, dass die Talsohle des tiefsten Leides schon durchschritten wurde und sich ein neuer Weg auf einen noch geheimnisvollen Berg hinaufwindet. Was wird dieser Weg uns bescheren, was wird uns auf dem Berg erwarten? Ja, man ist wieder zuversichtlich, man lacht sogar und freut sich eigentlich, dass man bisher überhaupt noch überleben durfte.

 

In der ersten und kleinsten Baracke, die an dem von der Stadt kommenden Weg liegt, wohnt in dem östlichen, grösseren Teil dieser aus Brettern gefertigten Behausung die Familie des Doktors Bröckelberger, des hochgewachsenen und trefflich wirkenden, aus Thüringen stammenden Apothekers und Poeten, der sich im letzten Kriegsjahr den Dichternamen „Molar“ zugelegt hat und diesen mit schaffendem Ungestüm zu verbreiten eifrigst bestrebt ist. „Prost, liebe Lilia!“, so sagt er jetzt zu seiner um einige Jahre älteren zweiten Ehefrau, deren feine Gesichtszüge - trotz leichten Aufgeschwemmtseins - samt ihrer besonders kraftvollen und alles zu durchdringen scheinenden Augen und dem kastanienbraunen, doch oftmals ins Rote hinüberschimmernden, bis in den Nacken fallenden Haar einem Charmeur die Worte entlocken könnten: Sie sehen noch vortrefflich aus, trotz einer gewissen, aber noch erträglichen Rundlichkeit an gewissen Partien des Körpers. „Prost, lieber Hans Winfried! Möge weiterhin dein Stern aufgehen und manchem nach Licht sich sehnenden Herzen in der Dunkelheit Erhellung und Beglückung bringen. Ich liebe dich, mein Guter.“ Und sie nähert sich ihm, zum Kusse die Lippen darbietend, die von dem mit Sekt befeuchteten Mund ihres von der Stirn bis zur Mitte des Kopfes glatzköpfigen Mannes gefunden und besiegelt werden. „Prost, Kinder!“, so stösst er nun sein Glas an die mit Saft gefüllten Becher seiner drei im Nachthemd stehenden Ältesten, während die vierjährige Irmgard, sein letzter Spross, bei Loderers, ihrer Pflegefamilie, in der grossen Nachbarbaracke in das neue Jahr hineinschläft. „So, jetzt gebt der lieben Mami einen Kuss und bedankt euch für alles Liebe, das sie euch im vergangenen Jahr zukommen liess.“

 

Die soeben für die Silvesterfeier aus dem Schlaf im warmen „Bett“ geweckte achtjährige Edelgard tritt, halb noch in Träumen scheinend, vor und sagt: „Danke, liebe Mami“, woraufhin sie einen Kuss auf die Wange erhält. Als nächster ist ihr eineinhalb Jahre älterer Bruder Wahrfried an der Reihe, und die Stiefmutter küsst ihn auf den Mund und erwidert auf seinen Spruch hin: „Ich liebe dich.“ Und Wahrfried bekommt einen roten Kopf und fühlt Scham über diesen Kuss in sich aufkommen und würde ihn am liebsten sogleich abwischen: aber dann mag sie es sehen und es mir übelnehmen. So brennt nun dieser unerwünschte Kuss auf seinen Lippen, während sie Hermann, dem blonden Elfjährigen, nur die Hand reicht, als er den Dank hervorstottert und vor lauter Verschlafenheit das „liebe“ vor „Mami“ vergisst. Sofort ermahnt ihn der alles beobachtende und alles belauschende Vater: „Hermann, wie oft muss ich dir sagen, es heisst nicht nur „Mami“, sondern „liebe Mami“. Bitte sage die Worte zu der lieben Mami nochmals.“

 

Und der in einem Stuhl in der Ecke sitzende Wolf, der Schwiegersohn Lilias und „Vater“ der kleinen stupsnäsigen, im Nebenzimmer schlummernden Helga, denkt, indem er die Gläser seiner Brille mit dem Taschentuch säubert: Was für eine Komödie! Und das noch in der Neujahrsnacht! Ich halte es hier bei diesem Affen einfach nicht mehr aus. Aber wohin sollte ich gehen? Hier scheine ich doch wenigstens sicherer zu sein als woanders. Hoffentlich entdecken sie mich auch in diesem Jahr nicht, denn „die“ würden vor Gericht keinen langen Prozess mit mir machen.

 

Und schon hallt das Dröhnen des stimmgewaltigen Dichters zu ihm herüber: „Prost, lieber Wolf! Ich wünsche dir viel Liebe und Segen im neuen Jahr!“ Und, zu diesem hinübergehend, stösst er das Glas an das seinige, klopft ihm zutraulich auf die Schulter: „Wir werden auch das neue Jahr mutig angehen müssen, denn jetzt kann es nur noch bergauf gehen. Darf ich dir noch von dem köstlichen französischen Champagner nachgiessen?“ „Gleich“, so lautet die Antwort, „ich will nur noch eben draussen die Feuerkracher anzünden. „ Ich möchte nur wissen, wie es ihm wieder gelungen ist, den teuren Sekt den Franzosen abzuluchsen. Ja, darin ist er Meister, aber ansonsten kann dieser Tolpatsch keinen Nagel gerade einhauen.

 

Leser: Was bedeutet dieses Wort „abluchsen“?

 

Autor: Ja, frag nur immer, oder vielmehr denk dir nur die Frage, dann werde ich hinter jedem dir unbekannt erscheinenden Wort die Erklärung hinzufügen. „Abluchsen“ ist ein Wort, das besonders unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg, während der Schwarzmarktperiode also, häufig gebraucht wurde und dem Sinn nach bedeutet: einen - meist Widerwilligen - überreden, einem selbst etwas zu überlassen, oder mit diesem etwas zum eigenen Vorteil tauschen.

 

Und die Kinder schauen in ihren Nachthemden aus dem Fenster hinaus, wo es mehrere Male zischt, kracht, sprüht und wieder Nacht ist. Und dann tönt es von innen: „Aber nun wieder ins Bett, ihr Lieben!“

 

„Ich werde noch eben auf einen Moment nach nebenan gehen und Heidrun zuprosten.“ Mit diesen Worten und die fast leergewordene Sektflasche ergreifend, entfernt sich der Allesbeschaffer und klopft nebenan im hinteren Teil derselben Baracke an die Tür, die sogleich von seiner Schwester, einer Enddreissigerin mit schon grauen Strähnen in den dunklen Haaren, geöffnet wird. „Das ist aber lieb, dass du noch vorbeischaust. Komm herein! Wie kommst du wieder einmal an den Champagner, jetzt, wo wir froh sind, wenn wir uns mit Apfelmost zuprosten können?“

 

Molar: Auf der Fähre sah ich vorgestern einen der hier ansässigen französischen Offiziere mit seiner Gemahlin hinten in einem Militärfahrzeug sitzen, während vorne neben dem Fahrer eine grosse Kiste Champagner plaziert war. Somit, mein Französisch hervorkrempelnd, gelang es mir, bei der Frau Gemahlin ein Paar Bastschuhe als Meersburger Souvenir gegen eine Flasche Champagner einzutauschen.

 

Heidrun: Wie du das alles machst! Das ist einfach erstaunlich. Ich könnte so etwas nicht. Ich bin froh, wenn ich meine drei Kinder ernähren und kleiden kann. Für morgen weiss ich gar nicht, was ich ihnen auf den Tisch setzen soll. Ich habe gar kein Geld, um etwas einzukaufen.

 

Molar: Vielleicht habe ich noch etwas in der Tasche. Ja, bitte, nimm diese Scheine. Es ist nicht viel, aber für ein paar Tage wird es reichen. Ach, die arme Schwester, wie gern würde ich mehr für sie tun können. Ja, wir haben auch bessere Zeiten gekannt.

Heidrun: Ja, daran darf man gar nicht mehr denken. Es kommt mir so vor, als ob diese nur geträumt gewesen waren.

 

Und als ihr Bruder sie wieder verlassen hat, schlägt sie den Vorhang, der als Trennwand des Schlafzimmers dient, ein wenig zurück und blickt seufzend auf ihre drei Kinder, den sechsjährigen Eckhard, auch „Ecki“ genannt, die siebenjährige Gerhild und die ein Jahr ältere Mechthild. Sie wissen von meinen Muttersorgen nur wenig. Gott sei Dank! Mögen sie nie so schwer im Leben zu kämpfen haben wie ich. Ja, vielleicht sollte ich morgen Lilia fragen, ob sie mir wieder Arbeit gibt, obwohl es mir verleidet ist, bei ihr zu arbeiten. Es ist schlimm, mitansehen zu müssen, wie besonders Hermann geschlagen und beschimpft wird. Aber auch die anderen Kinder von Hans Winfried haben es schwer. Lilia ist immer so zweideutig, man weiss nie so recht, wie sie es meint. Sie kann sehr gutmütig sein, und mit einem Male sprüht sie Gift und Galle. Ja, sie ist launisch und eifersüchtig. Sie will, dass Hans Winfried nie zu lange von ihr fortgeht. Er wird so ganz von ihr herumkommandiert und ausgenützt. Gut, morgen werde ich sie um eine Wiedereinstellung bitten. Hoffentlich vergisst sie unseren letzten Streit. Was wird das neue Jahr mir und meinen drei Kindern bringen? Das letzte Jahr war besonders grauenhaft samt der Flucht aus Thüringen nach dem Bodensee. Ja, wenn Lilia mir nicht den Brief nach Bäringen geschickt hätte, worin sie mir Meersburg als ein Paradies des Friedens beschrieb, in welchem sie mir zu einer Wohnung und Arbeit verhelfen wollte, dann wäre ich erst gar nicht nach dem Westen geflohen. Und jetzt? Jetzt sitze ich praktisch ohne Möbel in einer Baracke, die Kinder müssen auf der Matratze am Boden schlafen, und meistens haben wir nicht genug zu essen. Ja in Bäringen, dasshatten wir noch unser Haus, auch wenn man uns die Inhaberschaft der Apotheke wegnahm. Und zu essen hatten wir auch. Ach, wenn ich doch nur bei Vater und Mutter geblieben wäre. Aber ich musste ja befürchten, dass die Kommunisten mich doch noch abholen könnten. Und dann kam Lilias verlockender Brief, woraufhin wir vier heimlich über die Grenze nach Hessen gingen, immer fürchtend, auf der Flucht noch entdeckt und vielleicht erschossen oder abtransportiert zu werden.

 

Und in ihren Gedanken verfolgt sie die Flucht mit ihren Kindern, denen jedem ein Bündel auf den Buckel geschnürt war, in welche sie das für sie Nötigste gepackt hatte, während sie selbst ausser einem Rucksack noch eine schwere Tasche trug, worin nebst ihrem kargen Goldschmuck und einigem Silberbesteck auch die Photos und Briefe ihres im Krieg gefallenen Mannes zu finden waren. Ja, was soll das Jahr 1949 an Glück schon bringen können?