Der blinde Seher und der sehende Blinde

Am Eingang der breiten Baracke rechter Hand, unter dem Dachboden also, auf welchem die Maisblätter gelagert sind, wohnt der Blinde des Sommertales. Er befindet sich in seinem vierundsechzigsten Lebensjahr. In seinem Mund haften nur vereinzelte Backenzähne, so dass seine Kost meist aus aufgeweichtem Brot, aus Gemüse und, wenn erhältlich, aus Kompott besteht. Ein kleiner weisser Stock ist sein ständiger Begleiter. Hans Dörr, so heisst er, ist so etwas wie die „Seele“ der Barackenbehauser, denn jene pflegen gar oft zu ihm zu kommen, um sich mit ihm über ihre Probleme auszusprechen und sich Rat, Trost und auch frischen Mut geben zu lassen. Ja, er weiss die Dinge immer von einer ganz anderen Seite zu sehen und so viel Licht in die Dunkelheiten zu giessen, dass die Kummerbelagerten und die Nicht-mehr-ein-noch-aus-Wissenden oft selbst einsichtig werden. Und fragt man ihn, woher er sein erleuchtetes Wissen und Verstehen habe, so antwortet er, dass er, seitdem er vor einigen Jahren erblindete, sehend geworden sei. Und man scheint unter den in Armut lebenden Heimgesuchten keinen Glücklicheren finden zu können als eben ihn, den Blinden und beinahe Zahnlosen, von dessen Vergangenheit man nicht viel weiss, denn er spricht nie darüber, es sei denn, man hätte direkt gefragt. Aber jeder ist ja mit seiner eigenen Vergangenheit zu sehr beschäftigt, entweder um sie aufzuarbeiten oder, was heftiger versucht wird, um sie - wenn auch vergeblich - zu verdrängen. Warum also Vorhänge vor der schrecklichen Vergangenheit wieder aufziehen? Warum die vergangenen Leiden der Seele wieder aufdecken? Man hat diese Wunden mit Salben bestrichen und mit Pflaster und Binden bedeckt und umwickelt und hofft, dass sie nicht wieder zu eitern beginnen. Am besten, man denkt nicht daran und fragt auch nicht andere danach. Aber ein Dichter sieht auf diese Verwundungen wie mit den Augen eines gewissenhaften Arztes, der, von der äusseren Erscheinung ausgehend, auch den eigentlichen Krankheitsherd im Inneren zu erfahren sucht. Ein sehender Dichter ist doch immer zugleich ein Seelenarzt, der den Ursachen nachgeht und sich nicht mit dem Oberflächlichen begnügt.

 

Dörr besucht an einem späten Morgen, während „Frau Doktor“ und ihre Angestellten in der Werkstatt nebenan fleissig sind, unseren Barackendichter, um ihm ein Anliegen vorzutragen. Der poetisierende Schwerenöter empfängt auch den Blinden auf dessen Anklopfen mit dem weissen Stock hin - ein Geräusch, das sich leicht einprägt: Kommen Sie herein, lieber Dörr! Seien Sie willkommen! Ich mache mir gerade eine Tasse Tee. Darf ich Ihnen ebenfalls eine Tasse anbieten?“

 

Dörr: Das ist sehr nett von Ihnen, Herr Doktor. Aber bitte machen Sie meinetwegen keine Umstände.

 

Molar: Mit oder ohne Zucker? Mir tut er ja so leid. Er hat keine Verwandten mehr ausser einer Schwägerin in Zürich. Ich möchte niemals mein Augenlicht verlieren. Sagen Sie, lieber Dörr, ist es nicht furchtbar, nicht mehr sehen zu können?

 

Dörr: Nein, überhaupt nicht. Das Schlimmste, was ich ertragen muss, ist, dass die anderen ungerechtfertigtes Mitleid mit mir haben. Sie denken, ich müsse mich elend fühlen. Aber es ist ganz und gar anders. Ich bin vollkommen glücklich! Ich bin jeden bewussten Moment dem Tage dankbar, an welchem ich blind werden durfte. Ich habe seitdem so viel erlebt und sehen dürfen.

 

Molar: Wie? Sehen dürfen? Sie können doch gar nichts mehr sehen? Ich verstehe Sie nicht.

 

Molar: Was Sie dasssagen, lieber Dörr, scheint für mich unvorstellbar zu sein. Ich habe schon einmal daran gedacht, einen Blindenhund für Sie zu erwerben. Wäre das nicht eine grossartige Sache?

 

Dörr: Lieber Herr Doktor! Ihre freundliche Anteilnahme und Hilfsbereitschaft in Ehren. Aber einen Blindenhund mitzuernähren kann ich mir bei meinen bescheidenen monatlichen vierundsechzig Mark Kriegsversehrtengeld nicht leisten. Doch ich komme ja sehr gut auch ohne vierbeinigen Begleiter aus, obwohl die Liebe eines treuen Tieres einen unermesslichen Reichtum in sich darstellt. Aber es gibt heutzutage so viele Kriegsblinde, dass es sowieso an ausgebildeten Blindenhunden mangeln dürfte. Somit sollten jene Vorläufer nur für solche Blinden zurückgestellt sein, die vielleicht das innere Licht und Glück noch nicht geschaut haben und deswegen auf die Führung und Liebe eines Hundes um so mehr angewiesen sind.

 

Molar: Ich bewundere Sie immer, mit welcher Sicherheit Sie einherlaufen. Stossen Sie denn nirgends an?

 

Dörr: Doch! Ich bin fast schon gegen alle hervorhängenden Briefkästen der Stadt gelaufen. Auch Unebenheiten der bepflasterten Strasse bereiten mir manchmal Unannehmlichkeiten. Aber diese Hindernisse kenne ich nun sehr gut. Sie sind alle auf meinem mir vorgestellten Blindenstadtplan als gefährliche Punkte markiert. Allerdings muss ich im Winter, wenn Schnee- und Eisglätte vorhanden sind, meist in meinen vier Wänden verbleiben. Schwierig. wird es für mich nur, wenn ich im wärmeren Teil des Jahres herumreise. dasskomme ich in unbekannte Städte und Dörfer und muss notwendigerweise mich hin und wieder mal anstossen. Aber was sind diese kleinen Schmerzen im Vergleich zu den Qualen und Torturen, die so mancher in den drei letzten Jahrzehnten über sich ergehen lassen musste?

 

Molar: Was ich Sie immer schon einmal fragen wollte: Was machen Sie eigentlich auf Ihren Reisen?

 

Dörr: Nun, ich kümmere mich um die Toten Die haben eben auch sehr oft Hilfe nötig.

 

Molar: Ich verstehe Sie nicht.

 

Dörr: Es ist auch schwer für einen Aussenseiter, dies zu verstehen. Ich will Sie auch gar nicht mit näheren Erläuterungen belästigen, denn Sie haben offensichtlich eine andere Aufgabe in dieser Welt zu tätigen* als ich. Jeder muss seiner ihm aufgebürdeten Aufgabe mit aller Tatkraft nachkommen. Nun, verehrter Molar, weshalb ich heute zu Ihnen gekommen bin, hängt zwar mit dem eben Angedeuteten zusammen, zielt jedoch auf die noch Lebenden. Sie wissen vielleicht, dass ich für den erkrankten Herrn Lehrer Meissner die Orgel zur Sonntagsmesse spiele. Nun, ich hatte jahrelang kein Tastinstrument mehr berührt, von den paar Tönen auf Ihrem Klavier einmal abgesehen. Jetzt jedoch stellte ich fest, dass jeder Ton der Tonleiter für mich eine Farbe bekommen hat und dass ich beim Akkordanschlag sozusagen eine buntgestreifte Nationalitäteriflagge irgendeines in der Phantasie oder in der Zukunft liegenden Landes sehen kann. Nun, um auf mein Anliegen zurückzukommen, ich habe mit Wahrfrieds Hilfe ein Auferstehungsgedicht zu Papier gebracht, das ich zum Teil schon im Kopf mit Melodie und Tonsatz versehen habe. Ich werde gelegentlich Ihre Frau bitten, dies nach meinem Diktat niederzuschreiben. Ich will also eine kleine Osterkantate verfassen, die zum Auferstehungsfest in der Stadtkirche mit Hilfe des Meersburger Chores aufgeführt werden soll. Der Stadtvikar war von meinem Plan begeistert, möchte aber erst eine Abschrift des Textes nach Konstanz schicken, um das bischöfliche Plazet einzuholen. Herr Dichter, wäre es möglich, dass Sie dieses Gedicht mit mir nochmals überarbeiten könnten, um eventuell das eine oder andere auszubessern und zu glatten?

Und während der sehende Blinde und der blinde Sehende an dem Gedicht „herumdoktern“ und der Teetopf bald geleert sein wird, können auch wir in unserer Vorstellung einen Schluck heissen Tees geniessen, bevor wir zu dem Vor- und Nach-Dichter zurückkehren.

 

Molar: Einiges, lieber Dörr, bleibt mir in Ihrem sonst vortrefflichen Gedicht unverständlich, aber Sie müssen es ja besser wissen, denn Ihr Blick ist auf das Innerste, das Jenseitige und das Ewige gerichtet. Ich als Dichter muss jedoch die Welt in Augenschein nehmen können, denn die Farben dieses Lebens sind es doch, mit denen ich modelliere.

 

Dörr: Manchmal glaube ich, dass es vielen Dichtern zum Vorteil gereichen würde, einmal blind sein zu dürfen, um dadurch sehend zu werden. Blind zu sein, wie ich es meine, ist ein Privileg!

 

Molar: Das leuchtet mir gar nicht ein. Aber gut, dass er daran glaubt. Ich sollte ihm mal mein neues Gedicht vorlesen. Lieber Herr Dörr, dassfällt mir eben noch ein, dass ich gestern nacht ein Gedicht niederschrieb, das von einem Engel aussagt. Es ist ein Kindergedicht und ist mir eingefallen, nachdem ich meine Kinder zu Bett (er sollte sagen „zu ihren Matratzen“) gebracht hatte. Vielleicht fällt Ihnen zu diesen Versen auch noch eine Melodie ein. Das wäre sehr schön.

 

Dörr: Ich stehe Ihnen gern zur Verfügung, obwohl ich nicht weiss, ob meine bescheidenen Einfälle Ihrem Gedichte Genüge tun könnten.

Molar kramt nun in seinen Papierstössen herum. Er sieht in die Schublade, sucht erst hinter, dann unter dem Tisch (vielleicht ist es heruntergefallen?): „So was Dummes. Ich kann es nicht finden!“

 

Dörr: Ich glaube, lieber Herr Doktor, Sie haben es in ein Buch gesteckt, das auf dem Tisch liegt.

 

Molar: Wahrhaftig. Hier ist es! Woher wussten Sie das?

 

Dörr: Manchmal bekomme ich heimliche Hinweise. (Ein Nichtsehender und -hörender hätte sie vielleicht als „unheimlich“ bezeichnet.)

 

Jetzt hebt des Wortgewältigen Stimme an:

 

Schlaflied

Schlafe, schlafe, schlafe ein,
Schlaf mein Kindlein selig.
Droben überm Mondenschein
Wacht ein guter König.

Schlafe, schlafe, schlafe ein,
Schlaf in süssem Traume.
Engel webt beim Mondenschein
Dir am Unschuldssaume.

Schlafe, schlafe, schlafe ein,
Schlaf, o welcher Frieden.
Wach ja auch am Bettlein fein,
Um dein Glück zu hüten.

 

Dörr: Das ist doch gar nicht sein Stil? Für ihn ist doch diese Sprache viel zu naiv. Bei ihm muss doch alles donnern und bersten. Vielleicht hat der Engel der Kinder es ihm diktiert. Ja, so wird es sein.

 

Molar: Nun, was meinen Sie dazu?

 

Dörr: Ja, ein wahrhaftiges Kinderlied. Ich werde meinen Engel, so er es vermag, bitten, mir eine dazu passende Melodie vorsingen zu wollen.