Du lebst ja noch hinter den Berge

In der Meersburger Barackenwerkstatt ist die Arbeit wieder in vollem Gange. Lilia hat sich in den Kopf gesetzt, bis zum Beginn der Sommersaison mindestens fünfhundert Paar Bastschuhe gefertigt auf Vorrat zu haben.

 

Lilia: Jetzt, wo ich Heidrun hinausgeworfen habe, fehlt mir eine Arbeiterin. Ich werde mich nach einer neuen Kraft umsehen müssen. Es sollte ja leicht jemand zu finden sein. Komisch, kaum jemand sagt in den letzten Tagen ein Wort bei der Arbeit. Sie sind doch nicht etwa traurig, weil ich die von “drüben” gefeuert habe?

 

Ja, der mitverfolgte Familienkrach beim Möbelabladen hat die Atmosphäre unter den Arbeiterinnen gedrückt. War man anfangs der zweiten Märzwoche beim wiederaufgenommenen Arbeitsbeginn nach der Zwangspause froh und glücklich und scherzte gar aus Übermut während der zopfflechtenden und annähenden Tätigkeit, so scheint es nun allen die Sprache verschlagen zu haben, dass die beinahe Stummen sich nur auf die allernotwendigsten Mitteilungen beschränken.

 

Wir wollen indes uns das äussere Schweigen zunutze machen und unsere Lebensromanbegleiterinnen in ihrem Denken und Nach-Innen-Sprechen belauschen.

 

Erika Loderer: Ja, dieses Jahr hatten wir einen tollen Karneval. Mein Kleid hat überall Aufsehen erregt. Und auf dem Faschingsball bei den Franzosen gab es echten Champagner. Ich hatte vielleicht einen Schwips! Ja, und dann ist es passiert. Es war ganz traumhaft schön. Es war das erste Mal, dass es wunderbar war. Ich war so ganz entspannt dabei. Bei den Vergewaltigungen früher hatte ich immer viel zuviel Angst und Widerwillen und bei meinem mehr oder minder mich freiwillig Hingeben zuviel Ekel empfunden, denn fast immer waren sie (Sowjetsoldaten) betrunken. Jean ist ein richtiger Schatz. Er will mich unbedingt heiraten und mit nach Frankreich nehmen. Aber bekanntlich sagen das alle Besatzungssoldaten zu ihren deutschen Mädchen. Aber nur die wenigsten stehen zu ihren Versprechungen, wenn ihr Ziel erreicht ist. Würde ich wohl mit ihm gehen? Ja, auf jeden Fall! Aber meine Mutter müsste mitkommen. Hoffentlich bin ich nicht schon schwanger. Nächste Woche muss meine nächste Regel kommen. Was mache ich aber, wenn Jean mich am Ende doch sitzen liesse, sobald ich einen dicken Bauch bekäme? Wieder abtreiben? Nein! Diesmal behalte ich unter allen Umständen mein Kind. Das war furchtbar, als ich mich nach Kriegsende dieser Heilkräuterhexe anvertraute. Ich wäre beinahe verblutet. Das war alles ganz scheusslich und mit grossen Schmerzen verbunden. Aber ich konnte doch kein Russenkind zur Welt bringen.

 

Rosa: Die arme Heidrun. Jetzt muss ich für sie mitarbeiten. Wenn ich auch noch fliege (hinausgeworfen werde), dann können wir beide samt ihren Kindern betteln gehen. Sie denkt ja jetzt daran, für eine Bekleidungsfirma in Konstanz Kleider in Heimarbeit zu nähen. Mal sehen, ob sie den Anforderungen gerecht wird. Im Grunde ist sie froh, dass sie nicht mehr bei ihrer Schwägerin arbeitet. Sie kann diese Kommunistin nicht leiden. Ich mag sie auch nicht besonders, aber immerhin ist sie als Arbeitgeberin gerecht. Ich darf meine Anstellung bei ihr nicht verlieren. ... Ihr Schwiegersohn kommt mir so bekannt vor. Ich könnte schwören, dass ich ihn schon einmal gesehen habe. Aber bisher ist mir noch nicht eingefallen, wo es hätte sein können. Bei einem Reichsparteitag? Nein. Bei einer Goebbelsrede im Sportpalast? Nein. Anlässlich eines Besuchs bei meiner schwangeren Freundin im Lebensborn? Natürlich! Ich hab’s! Das ist der Uschi ihr “flotter Lorenz”, der sie öfter besuchen kam! Wann war das noch? So um neunzehnhundertzweiundvierzig-dreiundvierzig. Wie hiess er noch? Irgendwas mit Holzfällen. Hacker, Hackmann, Häckerfeld? Nein. Fäller, Fällmann? Nein. Sägmann, Sägerich, Säger, ja, ich hab’s! Sägerlein! Hauptsturmführer Sägerlein. Genau! Uschi war ja so verknallt in ihn. Aber ob das Kind von ihm war, weiss ich nicht. Uschi war ja in der Schule schon so begeistert für alle Männer in Uniform. Und dann machte ihr auch noch so einer von der obersten Sorte den Hof. Das musste sie ja “umwerfen”. Sie nannte ihn gerne “meinen Leberfleck-Lorenz”. Als ich sie fragte, weshalb sie ihn so nenne, dasssagte sie mir, er hätte einen Leberfleck genau auf dem Herzen. Was ist nur aus ihr geworden? Ich sollte ihn vielleicht mal fragen? Aber ich kann mir denken, dass es ihm nicht lieb ist, erkannt zu werden. Alle die Sturm-, Standarten- und Scharführer und weiss der Kuckuck, was das noch alles für Führer und “Verführer” waren, müssen sich ja wohl versteckt halten. Ich muss ja ebenfalls vorsichtig sein, um nicht entdeckt zu werden. Ich war ja Aufseherin von Zwangsarbeiterinnen in Fabriken. Wenn mich eine wiedererkennen würde, könnte man mir am Zeuge flicken wollen. Ich weiss, dass ich oftmals übermütig war oder meine Geduld verlor. War ich eigentlich ungerecht? Nein! Ich behandelte sie alle gleich, aber streng, wie man es von mir forderte. Doch manchmal habe ich mit der Peitsche geschlagen. Das hätte ich vielleicht nicht tun sollen. Aber alle anderen Aufseherinnen taten es auch. Ausser Uta. Die schlug nie. Sie ist ja dann auch versetzt worden wegen “Feindbegünstigung”, weil sie Gefangenen heimlich Brot zugesteckt hatte. Ja, manchmal hatte ich auch Mitleid mit den Zebragestreiften. Aber Mitleid galt ja als “Verweichlichung”. “Gelobt sei, was hart macht!” Dieser Satz bezog sich auf so vieles. Ja, “Kraft durch Freude” verwandelte sich gar oft in “Kraft durch Schadenfreude”. Ich habe doch auch oft Schadenfreude dabei empfunden, wenn ein Arbeitssaboteur ausfindig gemacht wurde und Schläge bekam. Sabotage war doch Verrat am Volk. Aber wenn doch das Volk den Häftling verriet und ihn in ein KZ absonderte, war es dann nicht recht und billig, wenn er ebenfalls Gleiches mit Gleichem vergalt? Ja, mein Gewissen plagt mich täglich. Ich sehe mich immer wieder selbst als die “Peitschenrosa”, so nannten sie mich ja. Wann werde ich doch endlich einmal meine Erinnerungen begraben können? Geht es dem Wolf mit seinen abstehenden Ohren vielleicht ebenso wie mir? Was hat er wohl alles auf dem Gewissen?

 

Lilia: Wo steckt nur Hans Winfried so lange? Ich habe das ungute Gefühl, dass ihn irgend etwas an München bindet. Ich rackere mich für seine Kinder ab, hole sogar unter Gefahr seine Möbel, und er wälzt sich mit anderen Weibern in deren Betten. Ich werde ihm mal wieder bei seiner Rückkehr einen Schreck einjagen müssen. Diesmal werde ich nicht nur damit drohen, meinen Koffer packen zu wollen, nein, ich werde ihn wirklich packen und aus der Baracke gehen. Erst dann werde ich mich von ihm erweichen lassen. Ja, um die Männer fester an uns zu binden, müssen wir Weiber ihnen öfter eine Komödie vorspielen. Und solange die dummen Mannsbilder unsere Komödien als Tragödien auffassen, behalten wir die Oberhand. Wenn wir nur gut genug unsere Rolle zu spielen wissen, dann erreichen wir alles. Was die Männer an physischer Kraft uns voraus haben, müssen wir durch unsere Verschlagenheit wieder ausgleichen oder gar übertreffen. Die Rosa schaut ja so verstohlen auf Wolf. Führt sie gar etwas gegen ihn im Schilde, oder haben die beiden gar irgendein geheimes Verhältnis miteinander, von welchem ich nichts weiss?

 

Frau Katzenbach: Es wird Zeit, dass der Herr Doktor bald wiederkommt. In seiner Gegenwart fühlen wir uns alle erleichtert, ja geradezu hochgehoben. Er hat für uns alle ein Wort des Trostes, wenn wir dessen bedürfen. Ich wünsche ihm viel Erfolg in München. Sicher wird er in allem das Richtige tun. Ich freue mich ja so, dass er, seine und Frau Heitmanns Familie es bald besser haben werden. Ja, in Madagaskar werden sie zu den “Herrschaften” gehören mit eigenen “Dienern”. Nein, ich habe dort nichts zu suchen. Ich bin keine “Herrschaft”, sondern tue nur auf Erden meinen bescheidenen Dienst in aller Demut. Vielleicht werden sich Frau Doktor und ihre Schwägerin auf der Afrikainsel wieder vertragen. Wahrscheinlich sind es nur die angespannten Nerven der Nachkriegszeit, die zwei Frauen, welche einen guten Kern in sich haben, in sich befehdende Widersacher verwandeln.

 

Man muss ihnen vieles zugute halten. Was für eine edele Tat von Frau Doktor, sich des lieben Herrn Doktors samt seinen vier Kindern* erbarmt zu haben. Nur eine grosse Seele kann solch einen Entschluss fassen. Und Frau Heitmann? Sie tut alles für ihre Kinder. Ich glaube, sie würde auch lieber selbst verhungern, als eines ihrer Kinder verhungern zu lassen. Und jetzt hat sie der lieben Rosa auch noch angeboten, bei ihr zu wohnen. Wie lieb von ihr. Es tut mir ja so leid, dass sie jetzt keine Arbeit mehr hat. Vielleicht kann ich ihr von meinem Arbeitslohn etwas anonymerweise in einem Briefumschlag zusenden. Ja, das will ich gerne tun. Sie wird sich dann freuen. Sollen mich selbst ihre Kinder “Buckelkatz”, “Warzenschreck”, “Hexe Miau-Miau” oder sonstwie nennen. Ich liebe sie allesamt trotzdem.

 

Frau Loderer: Wo wohl bloss jetzt mein Mann steckt? Ist er in Stalingrad gefallen? Ist er in russische Gefangenschaft geraten und in Sibirien verhungert, erfroren oder erschöpft zusammengebrochen? Lebt er vielleicht noch? Es sollen ja jetzt Kriegsgefangene aus Russland zurückkehren. Vielleicht steht er eines Tages vor der Tür. Ja, unser Sohn stand während des Krieges auch einmal vor mir. Es war im Traum, und er sagte: “Mutter, weine nicht, wenn du die Todesnachricht bekommst, denn ich lebe noch. Ja, ich bin mehr denn je zuvor lebendig. Mir geht es sehr gut. Ich bin bei Christus!’ Zwei Tage später bekam ich das Telegramm. Und der Traum fand genau in der Nacht des Sterbetages statt. Vielleicht sind jetzt meine Lotte und mein Enkelkind Klaus auch bei Christus. Klaus wäre jetzt fast genauso alt wie Irmgard. Vielleicht erscheint mir mein Mann auch demnächst in einem Traum und kündigt mir seinen Übergang an. Ich will doch Christus gleich jetzt bitten, mir meinen Mann, so er noch leben sollte, heil zurückzuschicken. “Herzallerliebster Heiland! Erhöre mein Gebet. Schicke mir meinen Eberhard wieder zurück. Lass ihn die irdische Hölle überleben. Ich flehe dich an. Vater unser, der Du bist im Himmel, ...”

 

Wolf: Die olle Loderer faltet doch schon wieder ihre Hände. Es ist zum Kotzen mit diesen frömmelnden Weibern. Es gibt doch gar nichts auf der anderen Seite als den Tod. Diese Spinner mit ihren Jenseitshoffnungen. Sie treibt doch jetzt während ihres Gebetes Arbeitssabotage, und Lilia muss sie dafür auch noch bezahlen. Mich wundert immer wieder, wie diese alte zopfflechtende Zottel so eine reizende Tochter gezeugt haben konnte. Mit jener kann man doch wenigstens vernünftig reden. Doch die und jene alte Wetterhexe gegenüber, die versauern einem die ganze Atmosphäre. Aber auch ohne diese beiden Schlampen ist es hier zum Kotzen. Ja, hoffentlich geht es bald ab nach Madagaskar. dassbin ich doch wenigstens erst einmal weg vom Schuss beziehungsweise Strick. Jetzt muss ich dauernd noch befürchten, dass mich irgendein Halunke erkennt und anzeigt. Als ich damals als Knecht beim Bauern arbeitete, dassmusste ich mir erst einmal meine fatale Tätowierung (SS-Blutgruppenmarkierung) mit einer Rasierklinge unter dem linken Oberarm herausschneiden. Das tat verflucht weh. Aber besser ein paar Minuten zetern, als irgendwo baumeln zu müssen. Der Himmler, der wusste schon, warum er uns, seinen “Getreuesten”, ein Merkmal aufprägen liess. Damit wir uns nie in Gefangenschaft begeben könnten, wo man mit uns kurzen Prozess gemacht hätte. Wir durften nie eine Chance haben, uns zu ergeben. Wir sollten bis zum letzten Schuss für Hitler und ihn, den Reichsführer-SS, kämpfen. Das waren auch so zwei Erzgauner, Obererzgauner! Wenn es Gespenster gäbe, dann würden sie sich vielleicht noch an den Qualen derjenigen ihrer treuen Diener weiden, die noch immer auf der Flucht sind oder sich versteckt halten. Ja, in manchen Träumen ist mir der Reichsführer schon erschienen. Ich hab’ ihn nie leiden mögen. Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass er im Grunde ein Weichling und Feigling gewesen ist. Meine Pistole habe ich noch unter dem Barackenfussboden versteckt. Wenn es einmal brenzlig wird, dann werde ich sie auf jeden Fall mitnehmen. Wenigstens bis zur Schweizer Grenze. Ja, ich könnte mir denken, dass sich so manch anderer Verfolgter, einschliesslich Koster, hier an der deutschen Grenze aufhält, um im Notfall nach der Schweiz zu verduften. Aber aus dem Madagaskarunternehmen wird doch nichts. Der Margarinefabrikant wird beim zweiten Blick sehen können, dass Hans Winfried ein Nichtsnutz ist, ein Schmarotzer der Menschheit, der die Menschen mit weihevollen Gedichten und hochtrabenden Ideen begeistern will. Er setzt den Leuten mit seinen Spinnereien nur Flausen in den Kopf. Er gibt sich sogar als Pazifist. Ja, ich verstehe nicht, warum man ihn “früher” nicht als Volksschädling mit einem schwarzen Dreieck (Zeichen für Asoziale) zu uns in ein KZ gesteckt hat. Wir hätten seine hochfliegenden Gedanken schon wieder zurück zur Erde geholt, indem wir ihm andere “Sprünge” beigebracht hätten. Bist du es, der den Gedankenrundenteilnehmern die Stichwörter zufliessen lässt? Ja. Du merkst auch alles. Nicht immer bin ich der Inspirierende, denn wie ich dir schon sagte, sind wir nicht ganz allein am Werke. Wir Unsichtbaren lieben es, unseren Schützlingen Stichwörter für ihr Denken zuzuraunen, damit wir sehen können, ob sie in gewissen Dingen schon einen Fortschritt gemacht haben. Es sind sogenannte kleine Zwischentests. Aber warum sind diese notwendig? Wir aus der höheren Geisterwelt versuchen, die Menschen von ihren negativen, liebelosen Gedanken abzubringen und sie dahin zu lenken, sich aus eigener Erkenntnis einem positiven, liebevollen Denken zuzuwenden, sind doch Gedanken immer die Zeremonienmeister der Taten. Diese Zwischentests sind Gradmesser ihres Fortschritts. Die liebe Frau Katzenbach bräuchten wir nicht mehr zu prüfen. Sie hätte schon zu uns kommen dürfen. Doch war es ihr besonderer Wunsch, unter den Barackenbewohnem noch Liebe ausstrahlen zu dürfen, und - du wirst es nicht glauben - sie wollte auch ihre Katzen nicht verwaist zurücklassen, sondern für jene erst ein neues Zuhause besorgen. Aber ich freue mich besonders darüber, dass Rosa einen Schritt vorwärts gemacht hat, auch wenn er im Vergleich zu den vielen tausend noch zu gehenden Schritten nur minimal erscheinen will. Wir von den helfenden Geistern freuen uns über jede positive Entwicklung und sind andererseits sehr betrübt, wenn eine Entwicklung aufgehalten wird. Aber warum betätigst du dich nicht einmal jetzt als testender Stichwortgeber in einem Gespräch nebenan zwischen Heidrun und Rosa? Aber Rosa sitzt doch noch hier und arbeitet! Hast du denn vergessen, dass wir uns beliebig in jede Zeit begeben können oder vielmehr, dass wir die Zeit mittels unserer Vorstellungskraft zu versetzen vermögen? Ich werde dir bei der Stichwortgeberei, so du gestattest, ein wenig zur Seite stehen, damit es unserm Buche von Nutzen sei.


Heidrun: Ja, bei unserem “Führer” gab es immer genug Arbeit. dassbrauchte niemand, so wie ich jetzt, darüber nachzugrübeln, wie er wohl eine neue Anstellung erhalten könnte. Bei “ihm” war alles besser. Und wie hat er uns begeistert mit seinen grossartigen Ideen von Volk und Reich. Du warst doch auch beim BDM (Bund deutscher Mädchen)? Warst du denn nicht von allem begeistert?

 

Rosa: Und wie! Für den Führer hätte ich alles gemacht. Er war für mich damals die Verkörperung alles Heldischen, Siegreichen, Völkisch-Herrlichen.

 

Heidrun: Genauso fühle ich auch heute noch. Ich bin keine Verräterin im nachhinein. Du warst doch auch auf Parteitagen?

 

Rosa: Ja. Das waren die grössten Stunden meines Lebens. Sie waren jeweils ein mehrtägiger Orgasmus.

 

Könnten wir beide uns nicht ebenfalls einmal auf einen solchen Parteitag begeben?

 

dass ich glaube, sicher sein zu können, dass es bei dir nicht zu orgastischen Zuständen kommen wird, habe ich nichts dagegen einzuwenden, dem parteitagsschwangeren nationalsozialistischen Nürnberg einen Besuch abzustatten. Doch wollen wir vorerst noch das Gespräch unserer beiden Busenfreundinnen weiterhin belauschen.


Heidrun: Beim Führer war doch alles vortrefflich organisiert. dassgab es keine Verbrecher mehr auf den Strassen wie in den Zwanziger Jahren. Jeder konnte sogar nachts - selbst in den Strassen Berlins! - spazierengehen, ohne einen Raubüberfall befürchten zu müssen.

 

Rosa: Dafür waren die Verbrecher im KZ und konnten dort als BVer (Berufsverbrecher) um so mehr Verbrechen begehen. Die Verbrechen wurden nur von der dunklen Strasse in die grausamen KZs und in die oft noch finstereren Gefängnisse verlagert und dort vertausendfacht. Aber Heidrun will ja nicht an so etwas glauben. Sie sagt immer, ich sähe alles falsch. Vielleicht bin ich auch nur hier, um ihr zu helfen und ihr den Kopf zu waschen (aufzuklären), so Schritt für Schritt. Für sie zählt Hitler nur bis 1939 oder 1942, dem Höhepunkt der grossdeutschen Machtausweitung. Ich habe jetzt gelernt, auch die letzten drei Jahre meinem Hitlerbild hinzuzufügen.

 

Heidrun: Damals hat alles geklappt. Jeder wusste, wo er hingehörte. Heute haben wir das heilloseste Chaos wie in den Zwanziger Jahren. Ja, wenn der Führer den Krieg gewonnen hätte, ... Er war auch ein besonders guter Mensch. Er hat Hunde, Kinder und Musik geliebt. Er hat sogar als wohl erstes deutsches Staatsoberhaupt auf sein Gehalt als Reichskanzler und Reichspräsident verzichtet. Stelle dir das doch einmal vor! So etwas Selbstloses! Er verrichtete sein Amt mit uneigennütziger Aufopferung aus Liebe zu seinem Volk. Ja, er sah es als seine Mission an, unentgeltlich für das Wohl Deutschlands tätig zu sein.

 

Rosa: Vielleicht war es ja auch nur ein politischer Schachzug von ihm, kein Geld anzunehmen, damit das Volk, von jener propagandistisch ausgenützten Grosszügigkeit wissend, ihm desto mehr Liebe und Achtung entgegenbringen würde?

 

Heidrun: Solche Schachzüge hatte er doch gar nicht nötig. Denn allein sein organisatorisches Durchgreifen und Anordnen hatte ihm innerhalb kürzester Zeit alle Herzen zufliegen lassen. Ausserdem, wenn es ums Geld geht, hört im allgemeinen bei allen Menschen die Liebe auf. Der Führer war darin aber ganz anders. Für ihn zählten nur die hohen Ideale und Ziele. Er war ein Mensch aus einer höheren Welt.

 

Rosa: Für Heidrun glänzt immer noch der Glorienschein um Hitlers Haupt, während ich ihm diesen schon entzogen habe. Man muss aber auch bei ihm die Kehrseiten sehen.

 

Heidrun: Nenne mir doch nur eine Sache, die schlecht gewesen wäre!

 

Rosa: Die Zwangsarbeit in den KZs.

 

Heidrun: Das war doch das einzig Vernünftige, um jene Faulenzer zum Arbeiten zu kriegen.

 

Rosa: Seine Judenpolitik war einfach abscheulich!

 

Heidrun: Er wollte sie ja grosszügigerweise alle nach Madagaskar schaffen. Aber die Engländer und Franzosen zwangen ihn ja gerade durch ihr “Nein!” dazu, sie in die KZs zu stecken. Das ist doch deren Schuld.

 

Rosa: 0, liebe Heidrun! Du lebst ja noch hinter dem Berge (abseits aller neueren Entwicklung). Du kannst doch nicht sagen, dass die Alliierten auch Schuld daran trügen, dass nahezu alle europäischen Juden vergast oder ermordet worden sind?

 

Heidrun: Von dieser sogenannten “Vergasung”, wenn es überhaupt so etwas gegeben hat und alles nicht bloss auf Feindpropagandassberuht, hat der Führer bestimmt nichts gewusst. Daran trüge dann allein der Reichsführer-SS die Schuld.