dassnähert mit schleppendem Stöhnen der Stadt sich das Rittergefährt, doch von den fünf mächtigen Kreuzen erspähet nun keines die Welt. Es türmen sich Koffer und Schachteln gar wohl auf dem windigen Dach, und Decken und Kästen verdecken den hinteren und vorderen Part. Jedoch aus den Türen und Fenstern dassbaumelt des Allerleis viel wie Pfannen und Wannen und Töpfe, woneben der Nachttopf gestülpt, der zweimal in Eile - vergebens -vom haftenden Knoten gelöst. So ratternd und klappernd auf holprigen Wegen eilt Molar samt Kindern und Mutterersatz der Freiheit, der goldenen, mit Hoffnung entgegen.
Molar: Gott sei Dank! Wir haben es geschafft! Wir sind in Hessen. Jetzt kann der Russe uns nicht mehr zurückhalten. Ein einziges Mal bin ich heute erst von einer amerikanischen Kontrolle angehalten worden. Aber mein Neustadt-Papier wirkte auch hier Wunder, obwohl man zunächst misstrauisch genug war. Kekse, Schokolade und einige Orangen haben sie nachher noch den Kindern geschenkt. Wunderbare Soldaten! Wie gut, dass mir Vater noch über 500 Mark mit auf den Weg gab. Mutter lag beim Abschied noch wehleidig und verärgert im Bett, so dass meine Kinder im Schlafzimmer von ihrer „Erdbeeroma“ Abschied nehmen mussten. Es gab keine Tränen auf beiden Seiten. Nur mein Vater umarmte mich und sagte: „Hans Winfried! Jeder ist seines Glückes Schmied. Vielleicht tust du intuitiv das Richtige. Deshalb kann ich dich auch nicht zurückhalten. Geh nur, mein Junge! Ich wünsche dir und den Kindern alles Glück dieser Erde.“ Ja, meinen Vater liebe ich. Aber meine Mutter ... ? Sie hat mich immer herumkommandiert und hat auch meiner Frau die Hölle heiss gemacht. Wie oft hat Gerdasszu mir gesagt: „Nimm mich fort von hier!“ Aber es war ja Krieg, und eine Umzugsgenehmigung hätten wir nicht erteilt bekommen, denn Mutter hatte ihr Veto eingelegt. Sie hatte ja auf das politische Gemeindeleben den grössten Einfluss... Jetzt ist es schon wieder später Nachmittag geworden. Dort unten liegt Hersfeld. Vielleicht sollte ich zuerst in einem Dorf anhalten, um zu versuchen, bei einem Bauern eine Notunterkunft zu besorgen und um Milch für meine kleine Irmgard zu bitten. Kinder! Dort unten ist Hersfeld. Wir haben es geschafft! Wir sind in der Freiheit!
Edelgard: Papi, ist das hier Amerika?
Molar: Aber nein doch! Wie kommst du denn darauf? Das ist immer noch Deutschland. Amerika liegt sehr, sehr weit weg. Um nach Amerika zu gelangen, muss man mit dem Schiff viele, viele Tage lang fahren.
Edelgard: Aber du hast doch gesagt, wir fahren zu den Amerikanern, und die wohnen doch in Amerika.
Wenige Stunden später gelingt es uns, für ihn (haben wir „uns“ gesagt? Nun, so beginnen wir noch einmal) ... Wenige Stunden später gelingt es ihm, bei einem Bauern in Sorga ein Zimmer „abzumieten“ (mit der deutschen Sprache scheint es auch „ab“-wärts zu gehen), wie der einen der allgemeinen Raumknappheit entsprechend hohen Preis fordernde Hofbesitzer sich ausdrückt. Auch Milch wird teuer von jenem erstanden, und Barbara kann für alle „sechs“ Kinder einen Griessbrei bereiten, denn unser Freiheitsfahrer äusserte sich vorher, dass er sich gerne, wenn es sich um Griessbrei handele, auch als Kind betrachtet wissen möchte. Und als das in der Bauernküche zu heiss Gekochte anbrennt und der „rührlosen“, aber sonst rührseligen Ersatzmutti die Tränen ob ihrer Nachlässigkeit kommen wollen, ruft unser grosser Griessbreiesser: „Jetzt schmeckt er erst richtig gut!“ Und seine Kinderschar lässt sich von der Suggestionskraft seiner Worte und Mienen und von seinem vom Heissen probierenden und nicht mehr vor Essbegehrlichkeit warten könnenden Gebaren von der Vortrefflichkeit überzeugen, während die elfjährige Nichte sich weigert, ihrem zarten Magen - vielleicht ist es auch nur essästhetische Empfindlichkeit - „Angebranntes“ anzuvertrauen.
Nun ist es schon nach Mitternacht geworden. Irmgard liegt in ihrem Schlafkörbchen - es war auf den Buckel des schnaufenden Wagens geschnallet - neben dem Kopfende des Bettes, in welchem die fürsorgliche Barbara, ein Prachtstück an hegendem Einsatzwillen, neben Edelgard und deren Cousine Platz gefunden hat, während unser knieverletzter Topfauskratzer - denn das Schwarzgebrannte auf des Topfes Grund wollte ihm allein nur munden - seine Lagerstätte mit seinen beiden Buben teilt, die sich in ihren Träumen vielleicht sogar über den Ozean hinüber nach Amerika gewagt haben, jenem Schlaraffenland ihrer Vorstellung, in welchem die Schokoladentafeln an den Bäumen wachsen.
Molar: Dies ist die erste Nacht in der amerikanischen Zone. Für die kommenden Tage können wir noch in diesem Zimmer wohnen. Bald aber wird mein Geld zur Neige gegangen sein, denn des guten Bauern Lohmanns Preise sind sehr hoch. Überall sind Flüchtlinge einquartiert, selbst in Scheunen und Ställen. Ich sollte also froh sein, überhaupt eine vorläufige Bleibe gefunden zu haben. Meine Nichte muss ich in den nächsten Tagen zu ihren Verwandten nach Göttingen bringen. Sollte ich nicht bei dieser Gelegenheit in Eschwege vorbeischauen, ob dort das Medikamentenlager im versteckten Erdschollen noch unentdeckt ist? ... Barbara ist ja eine nette junge Frau. Sie mag mich wohl sehr, denn heute, als wir die Kinder zu Bett gelegt und mit ihnen gebetet hatten, stand sie neben mir und legte ihren Kopf an meine linke Schulter. Liebt sie mich? Doch auf mich übt ihre pausbackige Lieblichkeit keine Faszination aus. Sie hat so gar keine Ader für die Kunst. Sicher wäre sie eine gute Mutter für die Kinder, aber ich könnte mit ihr nicht glücklich sein. Ich werde nun so lange suchen müssen, bis ich die richtige Frau und Mutter meiner vier Kinder gefunden haben werde.
„Herr Doktor!“, so raunt es durch die Dunkelheit vom anderen Bett herüber, „ich merke, dass auch Sie noch keinen Schlaf finden. Haben Sie schon einmal daran gedacht, sich wieder zu verheiraten?“
Molar: Nun, alles zu seiner Zeit. Bisher habe ich noch keine Gelegenheit gehabt, mich nach einer zu mir passenden Frau umzusehen. Vielleicht dauert es noch Jahre, bis sie mir begegnen wird.
Barbara: Vielleicht ist sie Ihnen schon näher, als Sie glauben.
Molar: Das glaube ich nicht. Das Schicksal wird mir eines Tages die richtige Frau zuführen.
Barbara: Herr Doktor! Ich liebe Sie.
Molar: Aber liebes Fräulein Barbara! Sie kennen mich doch gar nicht. (Wer weiss?)
Barbara: Ich habe ein ganzes Jahr darauf gewartet, dass Sie zurückkommen und mich heiraten werden. Ich will Ihre geliebte Frau und Mutter Ihrer Kinder sein. Wenn er „nein“ sagt, dann wird es mir unmöglich sein, noch in seiner Gegenwart zu bleiben. Dann werde ich traurig zu meinen Eltern nach Aachen fahren. Sie warten ja schon ungeduldig auf mich.
Molar: Nur jetzt nichts Falsches sagen, sonst verlässt sie uns spornstreichs. Liebstes Fräulein Barbara! Ihre Zuneigung zu mir und zu meinen Kindern ehrt und rührt mich. Aber ich kann über so lebenswichtige Entschlüsse nicht voreilig entscheiden, dassdoch das Schicksal unsere Wege lenkt und uns das erwählte Mass zuteilt. Aber jetzt ist es wohl besser, wenn wir die Augen schliessen, denn der morgige Tag wird wieder unsere ganzen Kräfte fordern.
Es war unserem Augenschliesser gelungen, das alles entscheidende Wort für die ihn liebende Barbara hinauszuzögern, dass er ja „erst einmal“ nach Göttingen fahren musste und somit Vordringlicheres zu erledigen hatte.
Und nachdem unser wacker sich abrackernder Ritter mit seinem rädrigen Vierbeiner jene ehrwürdige Universitätsstadt wieder verlassen hat und sein bisher treu gedient habendes Stahlross nach Hersfeld zurücklenkt, bleibt dieses auf einsamer Landstrasse wegen „Futtermangels“ stehen. Und als unser glückhafter Organisator nach Stunden mit einem Kanister der alles in Bewegung setzenden Flüssigkeit schwitzend zurückkehrt, fehlen dem abgeschirrten Rot-Kreuz-Renner, seiner Rosinante, alle seine Reifen, die bisher immer so siegreich einhergerollt waren, nebst einigen der jetzt unerschwinglich gewordenen Teile der sonst tapfer rumorenden Innereien. Und der über jene Gemeinheit Empörte giesst das entzündbare Nass in und über den eisernen Kadaver und setzt ihn in Brand. Er schaut der Riesenfackel zu und denkt: Ich bin ja so dankbar, dass mein nun seinen Geist aufgebendes Gefährt mich und die Kinder in die Freiheit gebracht hat. Einmal musste die Zeit des Abschieds kommen. Nun werde ich mich wohl wieder zu Fuss, per Anhalter oder mit dem Zuge weiterbewegen müssen. Nur nicht verzagen, in die Mitte wagen!
Und heute, an einem heissen Junitag des gleichen Jahres (1945), sehen wir unseren nun steuerlosen Gesteuerten mit Wahrfried und Edelgard, letztere bei der rechten Hand anfassend, durch das von Bombenangriffen beschädigte Kurbadstädtchen Hersfeld schreiten. Hinter seiner Stirm rumort es: Am Wochenende will Barbara zu ihren Eltern fahren. Dann stehe ich mit den Kindern alleine da. Ich muss heute versuchen, wenigstens einen von meinen beiden mir zur Seite Gehenden bei barmherzigen Leuten unterzubringen.
Wahrfried: Papi! Wohin gehen wir?
Molar: Ich suche für euch einen Onkel oder eine Tante, wo ihr erst einmal wohnen könnt.
Edelgard: Aber wir wohnen doch schon in Sorga?
Molar: Ja, aber Tante Barbara wird uns bald verlassen, und dann haben wir niemanden, der für uns kocht und für Irmgard sorgt.
Wahrfried: Ich koche für uns.
Edelgard: Und ich gebe Irmgard die Milch.
Molar streicht seinen beiden über den Kopf und lächelt gerührt, und ein wehleidiges „Ach ja!“ entfährt seinem Munde. Seine Augen haften alsbald auf einer ihnen auf dem Bürgersteig entgegenkommenden älteren Frau, die ihm wegen ihres gewinnenden Gesichtsausdrucks ansprechbar erscheint. Und den Hut lüftend, beginnt der Sorgenvolle folgendermassen: „Schönen guten Tag, gnädige Frau! Sie sind wohl nicht zufällig Hersfelderin?“
Frau: Doch, das bin ich. Kann ich Ihnen behilflich sein?
Molar: Ich bin nämlich ein mit vier Kindern geflüchteter Witwer aus Thüringen und suche für meine Kleinen Pflegeeltern.
Frau: Ach so! Das wird sehr schwierig werden, denn die Stadt ist voll von Flüchtlingen, und die Hersfelder haben selbst kein Stück Brot zuviel, wenn man überhaupt in diesen Tagen satt wird. Es tut mir leid, Ihnen keinen Rat geben zu können. Versuchen Sie es doch einmal beim Roten Kreuz.
Molar: Dort war ich schon. Ebenfalls beim Caritas-Verband und der Evangelischen Fürsorge. Gestern ging ich mit dem schmerzenden Knie den ganzen Tag von Amt zu Amt und habe Dutzende von Leuten überall angesprochen, um irgendwelche Möglichkeiten für die Unterbringung meiner vier auszukundschaften. Vergeblich. Heute habe ich diese meine beiden Kinder mitgenommen. Vielleicht haben wir drei vereint mehr Glück.
Und als ein wenig später ihnen zufällig ein ebenfalls am Stock Humpelnder begegnet, bringt Molar die gleichen Fragen hervor, und der Angehaltene erwidert zu Molars sichtbarer Freude: „Gehen Sie doch mal zu meinen Eltern. Mein Vater ist Arzt und wohnt dort drüben in dem grossen Haus direkt am Marktplatz. Sagen Sie ihnen, ihr Sohn hätte Sie geschickt. „
Arzt: So, Witwer sind Sie, kriegsverwundet und haben vier Kinder! Nun, dasswerden Sie es schwer haben, wieder auf einen grünen Zweig zu kommen. Darf ich fragen, was Sie von Beruf sind?
Molar: Apotheker. Zuletzt diente ich bei der Marine in Stralsund und Flensburg. Promoviert habe ich in Hamburg. Hoffentlich nehmen sie wenigstens eines der Kinder auf.
Arztfrau: Wie heissen denn Ihre beiden?
Molar: Gebt mal der Tante und dem Onkel Doktor die Hand und sagt euren Namen.
Arztfrau: Sie sehen ja so verlassen und niedergedrückt aus. Und eine Mutti haben sie auch nicht mehr. Wie traurig. Was meinst du, Ludwig, sollen wir sie erst einmal probeweise aufnehmen, bis Herr Doktor Bröckelberger eine neue Wohnung gefunden hat?
Arzt: Nun ja. Wollen wir es versuchen. Doch darf ich erst fragen, werter Herr Bröckelberger, welcher Kirche die Kinder angehören?
Molar: Sie gehören keiner Kirche an. Sie sind „gottgläubig“.
Arztfrau: Um Gottes willen! Das sind ja noch H e i d e n !
Molar: Ja wissen Sie, gnädige Frau, meine Mutter wollte es als strenge Nationalsozialistin nicht dulden, dass eines ihrer Enkelkinder getauft würde. Ihr Gott war ja Hitler. Und nach dem Grundsatz: „Du sollst keine Götter haben neben mir“ dachte und handelte sie auch.
Arztfrau: Wir nehmen Ihre Kinder nur unter der Bedingung an, dass wir sie so schnell wie möglich evangelisch (protestantisch-lutherisch) taufen lassen dürfen.
Molar: Aber von Herzen gerne. Würde es bei dieser Gelegenheit nicht Gott ein Wohlgefallen sein, wenn Sie, verehrte Herr und Frau Doktor, gleich alle meine vier Kinder taufen liessen?
Arztfrau: Bringen Sie auch Ihre anderen beiden! Nächsten Sonntag ist Taufe! Meine drei Töchter und ich werden ihre Patentanten!
Und unser glücklicher Familienfinder befindet sich in dieser Nacht allein in seinem Bauernzimmer in Sorga, dassauch Barbara heute schon - und zwar mit Tränen - den Nachtzug der Heimat entgegen genommen hatte.
Was für ein Glück habe ich doch heute gehabt! Vier auf einen Streich! Wer hätte das gedacht! Zwar musste ich mich verpflichten, nach bestem Vermögen von meinem möglichst bald erfolgen sollenden Verdienst finanzielle Zuschüsse zu leisten und bald ein eigenes Zuhause zu schaffen, dassman nur für einige Zeit meine Kinder mitdurchzufüttern bereit sei. Der Arzt riet mir, mich als Apotheker am Ort anstellen zu lassen. Aber das Knie schmerzt mir noch zu sehr, als dass ich acht bis zehn Stunden täglich stehen könnte. Ich will ja vor allem auch für meine Dichtung leben. Ich weiss, dass in mir der grosse zukünftige Dichter steckt. Ich muss diesem meinem inneren Drängen, mich dichtend zu betätigen, nachgeben. Aber wie soll ich es anfangen, ich, der gehbehinderte Witwer mit vier angeketteten Eisenkugeln an den Beinen? Ja, und wie sollte uns die Dichtung ernähren? Bisher habe ich nur einige Gedichte geschrieben und Skizzierungen von zwei Dramen und einem Drehbuch für einen Film vorgenommen. Als Dichter muss ich mich entfalten, muss meine Flügel ausbreiten, ja, ich muss meine Sinne mit Erhabenem läutern können und das gegenwärtige und das vergangene Verdriessliche verdrängen. Aber wie soll sich ein Falter in die Lüfte schwingen, wenn vier Raupen sich an seine Beine klammern? 0 Gott, zeige mir einen Ausweg, damit ich sowohl den Musen als auch meinen Kindern gerecht werden kann.