Der geteilte Kreis

Molars Einfälle erstrecken sich nicht nur auf die Dichtung und den Broterwerb. Er ist immer voller Ideen, besonders, wenn es darum geht, den anderen hilfreich zu sein. Nun bringt er der ein Bedürfnis geäussert habenden Helga, der vierjährigen Tochter Wolfs, den Nachttopf aus dem kalten Schlafzimmer, und als er ihn mit der Hand am Rand befühlt, nimmt er dessen Eiseskälte wahr. „Helga“, so sagt er zu ihr, „kannst du noch ein kurzes Weilchen warten, ich möchte dir erst gerne noch den Topf ein wenig anwärmen, damit du dich nicht erkältest.“

 

Also nimmt der Hilfsbereite das Nachtgefäss und setzt es mit dem Rand zuunterst auf den Herd. Ja, die arme Helga, die dauernd zu schreien scheint und ihn, den über seiner poetischen Arbeit Sitzenden, schon so oft mit ihrem fürchterlichen Gejammer und Geheul aus dem Konzept gebracht hat. Ach, sie ist zu bedauern, sie bekommt mehrere Male am Tage von ihrem Vater Schläge, und zwar schon bei dem nichtigsten Anlass. Warum hasst er seine Tochter wohl so sehr? Helga gibt ihm nun zu verstehen, dass sie nicht länger warten könne, und Molar ergreift das blecherne Gefäss beim Henkel und stellt es in die für solcherlei sitzende Verrichtung vorgesehene Ecke. Ich will ihr auch schnell eine Decke holen, damit sie sich bei ihrer Sitzung mit entblösstem Hinterchen nicht wieder eine Erkältung zuzieht. Doch kaum ist er einige Schritte gegangen, dassentfährt der Kleinen ein entsetzlicher Schrei, dem sich sogleich ein fast wild anmutendes Schmerzensgebrüll anschliesst, das gar nicht aufhören will. Molar versetzt Schrei und Gebrüll sofort in grosse Panik. dass er sieht, dass die Hände der Jammernden ihren Po befühlen, nähert er sich sogleich, lässt sie sich bücken und erblickt die roten Brandmale auf dem Gesäss. Ach, das ist ja schrecklich! Ich muss ihr sofort eine Salbe darauf schmieren. Mal sehen, was ich habe. Und er eilt flugs ins Schlafzimmer, um in dem Medizinkoffer, in welchem verschiedene, mit Etiketten versehene Flaschen, Dosen, Schachteln nebst Binden und sonstigem durcheinander liegen, das Geeignete zu finden.

Wolf hat das Schreien aus der Werkstatt nebenan gehört und kommt wildentrüstet herbeigelaufen: „Was machst du für ein Gejaule? Sei sofort ruhig, sonst gibt es gleich Haue!“ Helga - die Tränen laufen ihr über beide Backen - weist mit dem Kopf nach ihren Händen, die immer noch versuchen, das glühende Brandmal irgendwie in seiner Schmerzausstrahlung einzudämmen. Ihr Vater, sich zur Stelle des Wehs bückend und mit den Fingern zugleich den Rand des danebenstehenden Topfes befühlend, hört nun die Stimme des eilfertigen Dichters: „Moment, das haben wir gleich!“ Und er schmiert der noch Zitternden eine schmerzlindernde Salbe über den nun tiefrot gewordenen geteilten Ringabdruck. Wolf ist empört: Dieser Trottel, dieser beinahe Taugenichts, dieser Idiot mit seinen Spinnereien. Und laut sagt er: „Rühre mir ja meine Tochter nicht mehr an! Du bringst sie noch um, du Esel!“

 

Ich möchte wohl wissen, was Wolf für eine Vergangenheit hat, denn hiess es nicht vor einigen Seiten schon einmal, dass er sich ängstigt, entdeckt zu werden?

 

Ja, lieber Leser, ich will dir gerne deine Neugier befriedigen. Ich werde dir also einen Tag aussuchen, an dem Wolf von Trotha eine Verwandlung erfahren hat, leider eine mehr oder weniger nur äusserliche. Das von uns nun zu Beschauende findet am Ende der zweiten Woche des vorletzten Kriegsmonats im südlichen Thüringen statt.

 

„Mensch, wenn  d i e mich finden, dann hänge ich am nächsten Baum, diese Halunken“, so fährt es Lorenz Sägerlein durch den Kopf, während er auf einem Feldweg entlanghastet. Hinter ihm hört er Gewehrschüsse aus einem Dorf. Haben die mich etwa entdeckt? Ich Trottel, warum habe ich meine Uniform noch nicht abgelegt? Reiss dir die Achselstücke und Abzeichen bloss schnell ab. Selbst deutsche, die jetzt zum Feind übergelaufen sind, können dich einfach totprügeln, denn du als SS-Offizier bist jetzt Freiwild. Deine grossen Zeiten sind vorbei. Jetzt heisst es überleben, durchkommen, verstecken, verwandeln.

 

Er gelangt an einen breiten Bach, dessen Brücke gesprengt ist. Nur kein Zögern, einfach hinein. Hoffentlich ist er nicht zu tief. Wenn mich wirklich diese Amis (Amerikaner) dort im Dorf gesehen haben und mir folgen, hoffe ich doch, dass sie sich gefälligst nicht ihre Uniformen nassmachen wollen. ... Das wäre geschafft. Na ja, ich bin nur bis zur Brust nassgeworden. Was hat mir die Frau gestern noch in Kettelbach zugerufen: „Du SS-Verbrecher! Ihr habt Millionen von Juden umgebracht. Hunderttausende zitterten vor euch, und jetzt zittert ihr um euer eigenes Leben. Das ist die gerechte Strafe. Auch dich werden sie jetzt hetzen und überallhin verfolgen, bis sie dich aufhängen werden, du Lump. Vor Gott wirst du dich einst zu verantworten haben. Und was du anderen tatest, soll auch an dir vollzogen werden.“ Nur das nicht. Wir haben doch nur als Vollzugsorgane im höheren Auftrag gehandelt. Das muss man doch einsehen. Wir haben doch bloss unsere Pflicht getan, auch wenn wir darin manchmal ein wenig zu übereifrig waren und unsere menschlichen Schwächen gelegentlich mit uns durchgingen. Ja, ein höheres Gericht müsste mich freisprechen. Aber jetzt geht alles drüber und drunter. Überall Feindsoldaten. Es soll ja noch einige versprengte deutsche Einheiten geben, die noch irgendwo Stellung beziehen und sich bis zur letzten Sekunde verteidigen wollen. Wenn ich doch nur auf so einen Trupp stossen könnte, dann würde ich erst mal diese verdammte SS-Uniform wechseln. Lieber in einer lausigen Soldatenuniform gefangen werden als in dieser da, auf die ich bisher so stolz war und die mir überall Respekt verschaffte. Was wird der „Führer“ wohl jetzt noch tun können? Die „Wunderwaffe“ wird er auch nicht mehr einsetzen können. Sie konnte leider noch nicht ganz fertiggestellt werden. Wahrscheinlich wird er den Heldentod wählen und Gift nehmen. Ja, dann wäre alles aus. Wenn ich doch nur Gift hätte. Meine Pistole behalte ich auf jeden Fall. Wenn ich geschnappt werde, dann kann ich mich immer noch erschiessen. Doch bis es soweit gekommen sein sollte, werde ich mich durchkämpfen, und sollte ich dabei von der Pistole anderweitig Gebrauch machen müssen.

 

Er fährt mit seiner Hand in die rechte Jackeninnentasche, um sich zu vergewissern, ob sich die Waffe noch dort befindet und nicht etwa bei seinem hastigen Laufen oder bei der Bachdurchquerung verlorengegangen ist. Na, sie ist noch da. Hoffentlich hat ihr die Nässe nicht geschadet. ... Aber wer liegt denn dort unter dem Apfelbaum? Das ist ja ein Toter. Nackte Füsse. Ein Soldat. Ein Deserteur vielleicht? Ich schaue ihn mir mal an. Dort liegt seine Brille. Blut ist aus seinem Mund geflossen. Es ist schon geronnen. Vielleicht liegt er schon ein oder zwei Tage hier. Ja, hier entdecke ich den Einschuss durch die Brustrippen. Vielleicht war er auch auf der Flucht, und es hat ihm einer aufgelauert, der seine Stiefel brauchte. Vielleicht einer, der selbst ein Sündenregister hatte und deshalb dringend einen anderen Namen benötigte. Er hat selbstverständlich diesem Landser.... ja, er ist sogar Gefreiter, wie ich an den Achselstücken sehe, das Soldbuch entwendet. Der Tote scheint von meiner Statur zu sein, auch wenn er breiter in den Schultern ist. Ja, natürlich! Ich werde jetzt meine Uniform mit der seinigen wechseln. Das bisschen Blut darauf macht nichts. Das werde ich am nächsten Bach noch abzuwaschen versuchen.

 

Somit schickt sich Lorenz Sägerlein an, dem Toten die Jacke auszuziehen. Als dies geschehen ist, untersucht er deren Taschen. Mensch, der hat ja noch sein Soldbuch. Er schlägt es auf und liest: Wolf von Trotha, geboren am 22. Juli 1918 in Beuthen, Oberschlesien. Grösse 181 cm; Gewicht: 86 kg; Augenfarbe: blau; Haare: dunkelblond; Besondere Kennzeichen: Brillenträger. Während Lorenz liest, heitert sich sein Gesicht auf: Mensch, das gibt’s ja gar nicht! Nach der Beschreibung seines Soldbuches wenigstens sieht er fast so aus wie ich. Meine Haare sind blond, wenn auch nicht zu dunkel, ich bin 1,80 m gross, wiege jedoch nur etwa 79 kg, bin aber kein Brillenträger, doch habe ich wenigstens blaue Augen. Wolf von Trotha, das ist auch kein übler Name. Was für ein Zufall, dass ich das Glück habe, mit diesem Soldaten meine Uniform wechseln zu können. Ja, wenn ich in der geschnappt werde, dann stecken  d i e mich höchstens in ein Kriegsgefangenenlager, für einige Monate vielleicht nur, und dann bin ich ein freier Mann. Keiner wird mich kennen. Ich kann ein neues Leben beginnen und das abgelegte vergessen dürfen. Ja, ich ziehe am besten dem Toten meine Uniform an und trenne aus dem Futter der Jacke meinen dort versteckten Ausweis. Den stecke ich in die Tasche meiner Jacke, so dass man ihn bei der Auffindung der Leiche auch gleich entdecken kann und vielleicht irgendwo aktenkundig festhält, dass Sturmbannführer Lorenz Sägerlein, geboren am 13. Januar 1910 in Chemnitz, Sachsen, tot aufgefunden wurde. Von all dem Seinigen behält er ausser seiner Unterwäsche und den Stiefeln nur noch seine Pistole, sicherheitshalber.

 

Er setzt sich nun nach der Umkleidung für den nächsten Akt seines Lebens die Brille auf: Na, auch durch die kann ich sehen, wenn auch nicht so gut. Ich will sie aber nur dann aufsetzen, wenn es ratsam erscheint. Später werde ich mir einfache Gläser einsetzen lassen, dann kann ich sie ertragen. Warum nicht? So spiele ich jetzt in der Welt einen Wolf von Trotha. Und um acht Jahre verjüngt bin ich auch noch. Prächtig. Was bin ich doch für ein Glückspilz. Gestern glaubte ich noch, dass mein Leben an irgendeinem Strang oder durch eine Kugel enden könnte, heute bin ich ein geadelter Neugeborener. Er muss nun aus vollem Halse lachen. Er klopft sich sogar auf die Oberschenkel und hüpft einige Male wie ein Kind. Jetzt muss ich weitergehen. Weg von hier. Sonst entdeckt man noch meine Verwandlung. Ja, und man wird sogleich vermuten, dass ich ein Mörder bin und diesen „Wolf“ umgebracht habe. Die bayerische Grenze kann nicht mehr weit weg sein. Auf der anderen Seite werde ich versuchen, bei einem Bauern als Knecht erst einmal unterzutauchen, so ich nicht irgendwo noch in Gefangenschaft geraten sollte.

 

Lorenz, das heisst Wolf, sprach von Zufall. Ist es wirklich Zufall, dass er auf diesen ihm ähnlichen Toten gestossen ist?

 

Wie du wissen solltest, sind alle Geschehnisse auf Erden wie auch in anderen Welten von höherer Stelle geplant, sie können also keinem Zufall unterliegen, denn es liegt immer ein Zu-fall vor.