Es hat geschneit

Es ist der dreizehnte Januar. Wahrfried wird von dem Läuten des Weckers nebenan bei seiner Tante geweckt. Ja, sie steht immer schon früh auf, um das Feuer im Herd zu schüren, damit sie ihren drei Kindern eine Magermilch heiss auf den Tisch stellen kann. Gleich werden wir auch geweckt. Onkel Wolf brüllt immer so laut aus seinem Zimmer. Ach, ich graule mich davor, bei solcher Kälte aufstehen zu müssen. Schlafe ich noch ein wenig. Er hört jetzt durch die Holzwand, wie seine Tante Heidrun mit dem Feuerhaken im Ofen den Rost von der Asche befreit. Sie geht zum Fenster und zieht den Vorhang zurück. Dann ruft sie den Kindern zu: „Wacht auf, es hat geschneit!“ Sofort tritt Leben in die vorherige Stille ein. Die Träume sind vergessen. Die Kinder eilen zum Fenster, und Eckhard ruft begeistert: „Ziehen wir uns schnell an und gehen hinaus. Lasst uns mit Schneebällen werfen!“

 

Wahrfried hat die Ausrufe nebenan vernommen. Nun erhebt er sich von seiner Lagerstätte und begibt sich zum Fenster. Draussen ist es noch dunkel. Aber im Lichtschein, der aus dem Fenster der Tante fällt, sieht er es ganz deutlich. Tatsächlich, es hat geschneit. Der Schnee muss mindestens fingernagelhoch liegen. Wie schön. Doch dasswerden die Schulkinder uns in den Pausen und nach der Schule wieder bewerfen. Ja, uns hasst ja jeder. Wir sind Flüchtlinge, mit denen man alles machen kann. Soll ich Edelgard und Hermann schon wecken? Ich lasse sie noch schlafen, bis Onkel Wolf herüberruft: „Aufstehen, los, los!“

 

Von den drei Baracken im Sommertal bis zur Schule in die Oberstadt sind es gut fünfundzwanzig Minuten zu gehen. Als die Kinder mit ihren Schulranzen auf dem Rücken in die morgendlich dämmernde Dunkelheit treten und sich ihre Augen schnell an sie gewöhnen, werden sofort Schneebälle geformt und den neu aus dem Licht Tretenden entgegengeworfen. Es gibt ein Hin und Her von geballten Schneekugeln und Freuderufen. Aber dann ertönt schon die Stimme der Tante: „Ihr müsst euch beeilen, damit ihr nicht zu spät kommt!“ Sogleich beginnen die Heitmann- und die Bröckelberger-Kinder sich gemeinsam auf den Weg zu machen, denn bei den Worten Heidruns werden sie daran gemahnt, was ihnen bevorstünde, wenn sie zu spät kämen. Die Lehrer sind streng, besonders mit den Flüchtlingskindern, die man - wie wohl überall zu dieser Zeit - als unerwünschte Zigeunerkinder ansieht, als eine Zumutung für die eigene Bevölkerung. Diese Kinder, die meist zerlumpt herumlaufen, deren Mäntel und Kleider Flicken und fehlende Knöpfe aufweisen und deren Schuhbänder aus Bindfäden bestehen. Bestimmt haben sie Wanzen und Flöhe. Man halte sich von ihnen entfernt. Es ist gut, dass die Lehrer sie auf die hintersten Bänke gesetzt haben. Ja, wenn sie zu spät kämen, dann würden sie sogleich mit dem Stock auf die Finger „Tatzen“ erhalten. Somit ist es erklärlich, dass sie jetzt schnellen Schrittes über den beschneiten Weg laufen, immer den Spuren nach, die die vor ihnen aufgebrochenen Barackenkinder im Schnee hinterlassen haben. Und in den Gedanken der unserer Dichterstadt Entgegenhastenden regt es sich wie so oft auf ihrem Schulweg: Nur nicht zu spät kommen. - Hoffentlich kontrolliert Herr Koster nicht die Hefte. - Ich kann die dritte Strophe noch nicht auswendig. Bestimmt muss ich sie aufsagen. Hoffentlich gibt es keine Tatzen.

 

Ja, die einheimischen Kinder sind grausam zu den nicht ihnen Zugehörigen, den Fremden, die auch noch nicht einmal in die einzig richtige Kirche gehen, weil sie „nur protestantisch sind oder noch weniger als das. Es macht Spass, sie zu verhauen, besonders, dassman ja sowieso in der Überzahl ist, und es macht auch grossen Spass, sein eigenes Erfindungsgenie im Namengeben hervorzukehren. Hermann wurde von den Mitschülern mit der Bezeichnung „Stinktier“ versehen, Wahrfried ist zur Zeit der „Pisspott“, Edelgard die „Pestbeule“, und die drei Heidrunkinder nennt man „Schieleule“, „Petzziege“ und „Dauerfurzer“. Es ist ein ewiges Gaudium, jene Verwerflichen mit Steinen oder wie heute mit Schneebällen zu bewerfen und ihnen ihre „Ehrennamen“ zuzurufen. Entdecken Kinder bei den Erwachsenen einen sich in zahlreichen Vorkommnissen manifestierenden Mangel an Liebe anderen Menschen gegenüber, dann folgen sie gerne diesem Beispiel. Denn das Verhalten der Älteren ist der Heranreifenden bester Lehrmeister.