Wie viele Feinde Hast du im Krieg erschossen?

Sechs Tage später - es ist der 9. Mai - kutschiert unser Kreuzfahrer mit seinem vierrädrigen Selbstfahrer durch das zertrümmerte Weimar, das Jerusalem deutschen Dichtens und hehrsten Denkens. Heute jährt sich der Todestag jenes grossen Schillers, der vor zweimal siebzig Jahren seine irdischen Augen in eben dieser Stadt auf ewig schloss. Heute mit der ersten Minute dieses Todesgedenktages an Deutschlands grössten Dramatiker tritt auch die Gesamtkapitulation des deutschen Reiches in Kraft. Die „Stunde Null“ hat zu schlagen begonnen. Doch, wie es sonst wohl üblich gewesen wäre, werden am heutigen Tag dem Dichter aus Elysium zu Ehren keine Gedenkfeiern abgehalten. Zu tief sitzt den Bürgern dieser Weihestätte deutsch-nationaler Innerlichkeit der Schock, der ihnen in den letzten drei Wochen bereitet wurde, als man in allen Einzelheiten von den erschütternden Entsetzlichkeiten der benachbarten Todesfabrik, dem Konzentrationslager Buchenwald, erfuhr. Viele von ihnen können und vor allem wollen nicht an das Gesagte und Entdeckte glauben. Zu tief wehrt sich in ihnen alles gegen die Vorstellung, dass die geheiligte Dichterstadt nun auf alle Zeit mit dem Makel des Massenmordes behaftet sein soll, dass also die Stadt, von welcher die Botschaft an alle Welt erging: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“, zum Wahrzeichen bestialischer Unmenschlichkeit geworden sein soll, in welche, wie wir voraussehen können, in Zukunft Millionen von Erdenbürgern aller Nationen strömen werden, nicht, um sich an geniegeweihter Stätte vom Hauch des Ewigen anwandeln und sittlich erheben zu lassen, sondern um auf jenem stacheldrahtigen Todesgelände des Ettersberges von dem Atem des Schreckens angehaucht zu werden.

 

Molar, wohl das ein oder andere von dem dort stattgefunden habenden nationalistischen Greuel vernehmend, lenkt seinen Wagen nicht etwa auf jene Weimarer Höhen hinauf, um die noch frischen Spuren des Barbarisch-Unmenschlichen selbst in Augenschein zu nehmen und somit sein Wissen von Abgrundstiefen zu vertiefen, nein, er wehrt sich dagegen, einer Entsetzensphantasie Platz in seinem Denken einzuräumen. Somit ist es auch nicht verwunderlich, dass er einem spindeldürren Häftling, der soeben erst dem luziferischen Inferno entkommen konnte, eine Mitfahrgelegenheit nach Gotha anbietet, ohne in jenen Haut-und-Knochenmann, der neben der elfjährigen, von Jena mitgebrachten Nichte auf dem Vordersitz Platz gefunden hat, zu dringen und ihn aufzufordern, über sein Schicksal zu sprechen. Doch schweigt jener eventuell auch nur wegen der Anwesenheit dieses jungen Mädchens - denn darf man die Vorstellung eines heranwachsenden Mädchens - obwohl an Bombennächte in Luftschutzkellern gewöhnt - schon in die Kreise der Hölle einführen? Nein. Die Schleier der schönen Täuschungen, durch die eine Kinderseele blickt, werden von selbst einer nach dem anderen herabfallen.

 

Am späten Nachmittag gleichen Tags hat unser knieverwundeter Heimkehrer den vorläufigen Bestimmungsort seiner Wünsche erreicht, ohne auf der von amerikanischen Militärwagenkolonnen befahrenen Hitler-Autobahn behindert oder gar aufgehalten worden zu sein. Er bringt seinen Wagen mit den jetzt deutlich sichtbaren fünf Kreuzen unter Hupen vor der herrschaftlichen und unbeschädigt gebliebenen Apotheke zum Stehen. So dauert es auch nur wenige Augenblicke, bis sich die Haustür öffnet und seine drei Ältesten, „Papi! Papi!“ rufend, auf den Aussteigenden zugelaufen kommen, der sie eins nach dem anderen in die Höhe hebt und der noch nicht vierjährigen Edelgard die herunterpurzelnden Freudentränen abwischt. Er stellt seiner Kinderschar deren Cousine aus Jena vor und reicht daraufhin auch der strahlenden Gesichts herbeigetretenen Hebamme Barbara die Hand und fragt sie nach dem Befinden seiner jüngsten Tochter, welche er sogleich in ihrem Bettchen zu sehen verlangt, bevor er sich anzuschicken gedenkt, seine Eltern und die Schwester in der Arztvilla, in welche sie seit Gerdas Einzug in das Apothekenhaus gezogen sind, aufzusuchen. Die drei Kinder sind so stolz auf ihren Papi. Er ist für sie „riesengross“. Im letzten Jahr, anlässlich des Begräbnisses ihrer Mutter, war er kurz in Bäringen gewesen. Aber seinen Noturlaub musste er grösstenteils damit zubringen, eine Ersatzmutti für die drei Kleinen und besonders für die erst zwei Wochen alte Kleinste zu finden. Was für ein Glück bedeutete es für ihn, in Barbara, einer Fünfundzwanzigjährigen, deren Verlobter „im Feld geblieben“ (verstorben) war, eine Frau gefunden zu haben, die sich aus Liebe zu den Kindern - oder war es Liebe und Mitgefühl für ihn? - bereit erklärte, bis auf weiteres die an sie gestellte schwere Anforderung zu übernehmen. Und während sie alle ins Haus gehen, fragt Edelgard ihren Vater: „Du humpelst ja. Was hast du denn mit deinem Bein gemacht?“

 

Molar: Es ist nichts von Bedeutung. Es wird bald heilen.

 

Wahrfried: Papi! Du gehst doch nie wieder weg von uns, jetzt, wo wir doch keine Mutti mehr haben?

 

Molar: Kinder, wir werden von nun an alle zusammen bleiben.

 

Hermann: Papi! Wieviele Feinde hast du im Krieg erschossen?

 

Molar, ihm einen kleinen Klaps gebend: Wie kannst du annehmen, dass ich getötet haben könnte?

 

Hermann: Aber du warst doch im Krieg, und dass erschiesst man doch. Wenn ich mit unseren Nachbarskindern Krieg spielte, haben wir doch auch geschossen und erschossen. Ich hab doch alle Schlachten gewonnen, weil mein MG (Maschinengewehr) am schnellsten feuerte. Ja, ich bin ein Held. Und ich dachte immer, mein Papi wäre auch ein Held gewesen. Schade!

 

Molar: Es ist nicht schön von mir, dass ich meinem Siebenjährigen gleich zur Begrüssung eine Ohrfeige gebe. Verzeih, lieber Hermann, wenn ich so heftig reagierte. Aber du musst wissen, dass man im Krieg auch ein Held sein kann, ohne getötet zu haben.

Und zum Abendbrot sitzt unser Held mit seinen Eltern, seiner Schwester und dem sich ihnen als Hausgenosse zugesellenden Arzt und Witwer Doktor Hackmann um den gedeckten Tisch und lässt es sich aus einer Flasche Wein schmecken, die der sanftschnurrbärtige Apotheker noch für besondere Gelegenheiten - wie anlässlich einer Heimkehr des schon verloren geglaubten Sohnes - im Keller zurückgestellt hatte. „Prost, mein Sohn! Trinken wir auf deine Rückkehr, auf dass du lange bei uns bleiben mögest!“ Doch der Zugeprostete, der sich genötigt findet, auf sein eigenes Unbehagen anzustossen, versucht anschliessend, die Anwesenden über sein wahrhaftes Vorhaben aufzuklären, und beginnt folgendermassen: „Nun, wie ihr ja wisst, wird der Amerikaner Thüringen bald wieder den Rücken kehren, um dem Russen das Feld (tatsächlich sind die deutschen Länder der zukünftigen Russisch Besetzten Zone die Korn- und Kartoffelfelder Deutschlands) zu überlassen.

 

Doktor Hackmann: Aber ich bitte Sie! Das ist doch barster Unsinn, was Sie dasssagen! Der Amerikaner wird doch nicht so dumm sein, das eroberte Sachsen und Thüringen unserem gemeinsamen Feind zu übergeben?

 

Mutter: Ja, Hans Winfried, das musst du doch schon gemerkt haben, dass wir augenblicklich mit den westlichen ehemaligen Feinden in Verhandlung stehen, um gemeinsam den Russen zu besiegen. Wir führen also mit vereinten Kräften das zu Ende, was unser leider nicht mehr lebender Führer nur beinahe verwirklichen konnte. Fast alle hier im Dorf warten auf den Aufruf zum gemeinsamen Kampf gegen den bolschewistischen Roten Koloss.

 

Molar: Das ist doch alles Utopie!

 

Doktor Hackmann: Ganz und gar nicht! Weshalb wohl haben sich die Waffenstillstandsverhandlungen so lange hingezogen? Doch nur, um sich genauestens über das gemeinsame taktische Vorgehen zu beraten. Der tapfere deutsche Soldat mit dem gesamten amerikanischen Rüstungspotential hinter sich kann auch jetzt noch Russland zurückerobern.

 

Heidrun: Ich bin ganz der gleichen Meinung.

 

Molar: Die armen Irren. Sie glauben noch an den Endsieg! Wer hätte das gedacht!

 

Apotheker Bröckelberger: Vielleicht lebt ja Hitler noch, und sein Tod ist eine Falschmeldung. Dann könnte es doch sein, dass er dem Weltheer im Kampf gegen den Kommunismus wieder als „genialster Feldherr aller Zeiten“ vorangestellt wird.

 

Heidrun: Nein, der Führer hat sich nicht feig versteckt wie die Verräter Himmler und Konsorten. Er ist als Held mit der Waffe in der Hand gefallen.

 

Und Heidrun muss an die Hiobsbotschaft der vorletzten Woche denken, als der Reichspropagandaminister im Radio den Tod des „geliebten“ Führers kundgab. Wie hatte sie dassauf einmal weinen müssen, auch ihre Mutter hatte geschluchzt, und schliesslich begannen alle Kinder, mit den Trauernden sympathisierend, ihr Tränenmass zu spenden. Es war ein Heultag wie in vielen anderen „braunen“ Häusern, ein Tag des apokalyptischen Seelenschocks, ein Tag der hochnotpeinlichen Heimsuchung in den Herzen mit dem wirklichen oder erträumten goldenen Parteiabzeichen.

 

Molar: Ich habe vorgestern noch einen amerikanischen Officer um den wahren Sachverhalt befragt, und er versicherte mir, dass Churchill und Truman zu den Stalin gegenüber eingegangenen Verträgen stünden. Ausserdem weiss ich ja schon seit langem, dass Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt werden soll.

 

Mutter: Woher weisst du das?

 

Molar: Ich habe die Nachrichten des BBC (Britischer Rundfunk) schon seit meinem Marinedienst in Frankreich heimlich gehört.

 

Mutter: Hans Winfried! Was sagst du da? Du, mein Sohn, hast im Krieg Sabotage begangen, indem du dir die englische Lügenpropagandassanhörtest? M e i n  Sohn? Kein Wunder, dass wir den Krieg verlieren mussten, wenn unsere eigenen Söhne ihrem Volk den Dolch in den Rücken stiessen. Hans Winfried! Ich bin entsetzt über dich! Ich mag nicht mehr essen! Ich gehe ins Bett!

 

Molar: Aber liebe Mutter! Bleib doch noch! Dies ist für längere Zeit mein letzter Abend bei euch. Morgen fahre ich nach Hessen weiter.

 

Mutter: Was sagst du?

 

Molar: Ich weiss, dass die Russen bald kommen. Ich werde morgen meinen Wagen vollpacken und mit den Kindern und Barbara nach Hersfeld fahren.

 

Mutter: Sag mal, bist du übergeschnappt? Erstens einmal kommen keine Russen hierher, und zweitens sollst du, so du nicht noch zum Endkampf zurückgerufen wirst, hier unsere Apotheke übernehmen. Was willst du überhaupt in Hessen? Du kennst doch dort niemanden. Was soll denn mit deinen Kindern geschehen? Du kannst sie doch nicht auf die Strasse setzen oder zu fremden Leuten geben? Deine Jüngste ist noch nicht einmal ein Jahr alt! Heidrun, rede ihm die Flausen aus dem Kopf. Ich gehe jetzt zu Bett. Komm, Klaus Friedrich!

 

Und der angeredete sanftmütige Ehemann ist ihr beim Aufstehen behilflich. Sie knurrt noch ein widerspenstiges „Gute Nacht!“ der dreiköpfigen Tafelrunde zu und entfernt sich mit dem Stöhnen einer Ischiasleidenden, welche die Welt nicht mehr verstehen kann, weil diese ganz und gar nicht mehr so aussieht, wie sie ihrer Vorstellung nach aussehen sollte.

 

Doktor Hackmann: Lieber Herr Stabsapotheker! Stimmt es wirklich, dass der Russe nach Thüringen kommt?

 

Molar: Ganz bestimmt!

 

Doktor Hackmann: Dann wird man mir wohl auch am Zeug flicken wollen. Ja, Stalin wird Rache an uns nehmen. Sollte ich auch nach Hessen oder Bayern fliehen? Aber ich bin alt. Nein, ich bleibe, denn jemand muss auch den Zurückbleibenden mit tröstendem Zuspruch und ärztlicher Hilfe beistehen. Wer hätte gedacht, dass alles einmal so kommen würde? Ja, ich werde jetzt auch zu Bett gehen. Ich sehe Sie wohl morgen vor Ihrer Abreise noch? ... Gute Nacht!

 

Molar: Heidrun, du solltest in die gesicherten westlichen Zonen mitkommen. Ich bringe morgen die Kinder nach Hersfeld und komme zurück und hole auch dich.

 

Heidrun: Mutter ist krank. Sie benötigt mich. Und ausserdem habe ich keine Verwandten im Westen. Wohin sollte ich mit meinen drei Kindern wohl gehen, wo mein jüngstes erst anderthalb Jahre alt ist? Ja, wenn ich ein Mann wäre, dann könnte ich vielleicht an einen gewagten Umzug denken.

 

Molar: Liebe Heidrun! Wenn ich eine neue gesicherte Bleibe gefunden habe, dann kommst du mit deinen drei Kindern zu mir. Wir wohnen unter einem Dach, und ich werde der versorgende Familienvater von sieben Kindern sein.