Später werden wir uns alle einmal wiedersehen

Wenn Menschen von bestimmten Verstorbenen reden, dann ist es oft so, dass jene auch wirklich anwesend sind. Die Anwesenheit jener Geister empfinden die Kinder in besonderem Masse, und sie sind oftmals direkt dazu angehalten, darüber auch auszusagen.

 

Ich hätte gerne mehr über die Mutter der Kinder gewusst, besonders, was sie den Kindern über ein Wiedersehen gesagt haben soll.

 

Gut, so lass uns Szenen der Vergangenheit betrachten. Wir brauchen das Rad der Zeit nur ein wenig zurückzudrehen, und ohne dass wir uns zu ihr begeben müssten, kommt sie zu uns und offenbart sich unserem wollenden Wunsch in jedem gezielt gedachten Augenblick.

 

dassliegt sie neben ihrem zweiwöchigen, nun schlafenden Töchterchen im Bett. Es ist Mitte Juni 1944 in einem thüringischen Dorfe namens Bäringen. Es ist schon nach zehn Uhr abends. Ihre Freundin, Frau Riemann, hat sie soeben erst verlassen. Jetzt sinkt ihr Kopf in die Kissen zurück, und sie schliesst die Augen. Ja, die Gute. Sie hat mich gestern aus dem Gothaer Krankenhaus hierhergebracht. Wie kann ich ihre Liebe vergelten? Wie gut, dass ich in diesem verlassenen Dorf einen Menschen habe, dem ich mein Herz ausschütten kann. Mein Schwiegervater ist ja sehr nett. Aber seiner Frau und Tochter, den fanatischen Hitlerianern, kann ich nichts recht machen. Vielleicht deswegen, weil ich ihrem Sohn und Bruder ausredete, in die Partei einzutreten. Aber das allein wird’s nicht sein. Heute waren sie dassmit dem Parteiabzeichen auf ihren Hemden und schauten sich meine Kleinste an. Und die „Ortsgruppenfrauenschaftsleiterin“ sagte: „Mein Enkelkind muss einen nationalsozialistischen Namen tragen, denn wir müssen dem Führer in seinem grossen und schweren Kampf um die Umgestaltung der Welt unsere Treue beweisen, indem wir unseren Kindern Namen nach seiner Gesinnungsart geben.“ Dann schlug sie die Namen „Wehrhild“ und „Burglind“ vor. Ich hätte am liebsten gelacht. Der Führer hat seinen Krieg schon so gut wie verloren. Es kann nur noch einige Monate dauern. Und sie träumen noch immer von dem Endsieg. Wie froh war ich, dass sie bald gegangen sind. Mir haben sie noch nicht einmal zu meinem neuen Kind gratuliert. Und die Blumen habe ich von meiner Freundin Friedass erhalten. Ach, was für eine Freude war es gestern, als meine drei anderen Kleinen ihr jüngstes Schwesterchen zum erstenmal sehen konnten. Und Wahrfried und Hermann stritten sich darum, wer sie einmal heiraten dürfe. Ja, meine lieben Kinder, ich hab}}} euch alle so lieb, und ich hoffe, dass ihr alle etwas werdet und der Menschheit doch irgendwie zum Guten nützlich sein könnt. Ach, wenn doch jetzt nur Hans Winfried hier wäre. Wie sehr würde er sich über... ja, wie soll ich sie wohl nennen? Renate, die Wiedergeborene, oder...

 

Und während sie über einen Namen nachdenkt, schläft sie ein. Und im Traum erscheint ihr ein wunderbar anzusehender Mann mit einem langen, fast bis zu den Füssen herabhängenden feinseidenen Mantel, der mit vielen Edelsteinen besetzt zu sein scheint, denn ein buntes Glitzern und Strahlen ergiesst sich aus ihm. Der ihr Erschienene lächelt sie freundlichst an und sagt: „Ich komme, um dir anzukündigen, dass du nun deine Aufgaben auf Erden alle erfüllt hast. Dein Wunsch war es gewesen, bevor du zu uns zurückkehren wolltest, noch deine zweite Tochter zur Welt zu bringen, denn so habt ihr beide es bei uns vorher verabredet. Sie soll deine Aufgaben auf dieser Welt einst weiterführen, während du ihr von unserer Seite aus dabei behilflich sein magst. Nun, alles ist nach Plan verlaufen, du wirst morgen nacht von uns empfangen}}} werden. Wir freuen uns schon auf dein Kommen.“ „Aber ich kann doch meine Kinder nicht verlassen und schon gar nicht mitten im Krieg. Das darf ich doch nicht. „Deine Kinder haben sich alle ihr Schicksal selbst ausgesucht, bevor sie auf die Erde kamen. Sie können aus einer harten Jugend, ohne die Ermunterungen und Liebe der eigenen Mutter tatkräftig spüren zu dürfen, viel lernen, das ihrer seelischen Weiterführung und Ausbildung dienlich ist. Daher sorge dich bitte nicht, denn du wirst sie alle von unserer Seite aus begleiten und beschützen dürfen. Gott sei mit dir.“ Und mit diesem Gruss entzieht sich seine Gestalt ihren inneren Blicken. Sie vernimmt nun, dass jemand schreit, ja, es hört sich an wie die Stimme eines Babys. „Ist es vielleicht mein Baby?“

 

Gerdasswacht plötzlich auf. Mein Kleines schreit. „Ja, beruhige dich, meine Süsse. Komm an meine Brust. Ich weiss ja, du hast Hunger. Ja, ja, es ist schon gut.“

 

Und während sie die noch Namenlose stillt, fällt ihr jener Traum wieder ein. Wie merkwürdig. Was sagte er noch: Sie wollen mich empfangen? Ich verstehe nicht. Soll es heissen, dass ich sterben muss? Ich darf aber noch nicht von hier gehen. Ich muss noch leben, leben für meine Kinder. Und mein Mann ist doch auch noch ein Kind. Aber sagte jener Mann nicht, dass ich von der anderen Seite.... was er damit wohl meinte? Vielleicht den Himmel? Und ich darf dann als Engel bei meinen Kindern sein und ihnen beistehen? Eigenartig. Wenn man doch nur wüsste, was man von Träumen halten darf.

 

Am nächsten Morgen wacht sie mit grossen Schmerzen im Oberschenkel auf. Sie fühlt sich fiebrig. Das Hausmädchen holt den Arzt. Dieser, nachdem er die Kranke untersucht hat, versucht, sofort einen Krankenwagen zu bestellen, der die Fiebrige zurück in das Gothaer Krankenhaus bringen könnte. Aber seine Bemühungen bleiben vergebens. Es heisst immer wieder: „Kein Benzin“ oder: „Alle Krankenwagen sind an der Front.“ Im Oberschenkel hat sich über Nacht eine gefährliche Thrombose entwickelt, und die Gefahr einer sich anbahnenden Embolie ist sehr gross. Der Arzt, Doktor Hackmann, gibt ihr eine Morphiumspritze. Gerdassist von der Wirkung dieses Giftes, nachdem sie aus einem mehrstündigen Schlaf erwacht ist, ganz benommen. Ihr Baby schreit. Sie lässt es an ihrer Brust trinken. Daraufhin ruft sie das Dienstmädchen mittels einer am Bett bereitstehenden Schelle herbei und sagt: „Bitte, liebe Agathe, hole meine drei Kinder herbei, ich will mit ihnen für einen Augenblick alleine sein.“

 

Alsbald stehen ihre drei Ältesten vor ihr, und sie legt ihre Hand auf das Köpfchen der noch nicht vierjährigen Edelgard und sagt, indem sie sich selbst Mühe gibt, tapfer zu sein: „Ich muss euch jetzt etwas Wichtiges sagen. Und ihr müsst mir versprechen, nicht zu weinen.“ Und Hermann und Wahrfried nicken bei gesenkten Köpfen, denn ein ahnendes Weh hält ihr Herz schon umklammert. „Ihr werdet vielleicht noch nicht alles verstehen können, was ich euch mitzuteilen habe. Aber ich muss es euch trotzdem sagen. Ich werde bald im Himmel sein und nur noch als Engel zu euch kommen können. Aber ich werde so oft wie möglich bei euch sein und euch immer beschützen. Seid immer lieb zu eurem Papi. Seid gut zu anderen Menschen. Behandelt sie wie eure liebsten Verwandten. Sagt nie eine Lüge, denn Gott mag nicht, dass wir lügen. Helft immer dort, wo Menschen Hilfe brauchen. Später werden wir uns alle einmal wiedersehen. Das wird eine Freude werden. Ja, seid brav, meine Lieben.“ Daraufhin gibt sie allen einen Kuss auf die Stirne und bedeutet ihnen, spielen zu gehen.

 

Und die drei wenden sich der Türe zu. Ihnen klingen noch die Wörter im Ohr: „Himmel“, „Engel“, „beschützen“, „wiedersehen“ und „Freude“. Das sind doch alles Wörter, bei denen man sich etwas Schönes vorstellen kann. Und trotzdem haben sie das ahnende Gefühl, augenblicklich ein Paradies verlassen zu müssen. Doch das volle Bewusstsein über das soeben Gesagte bleibt ihnen noch verschlossen.

 

In der folgenden Nacht, genauer gesagt, in den ersten Morgenstunden des 16. Juni, ist Gerdassauferstanden.