Höllenbewohner oder Friedensapostel

Unser angeheuerter Grossgrundverwalter und Ölpalmsachverständiger sitzt in einem Zürcher Café und liest in einem in französisch verfassten und von Stämpfli ausgeliehenen Buch über Madagaskar. Er macht sich mit den Beschaffenheiten dieses „Paradieses“ und den Eigenarten seiner Insulaner vertraut. Was? Die Einwohner dieses vom Wasser behüteten Märchenparks kamen vor einigen hundert Jahren mit Einbaumbooten von den Malaiischen Inseln? Das klingt ja unglaublich! Auch führten sie den Reis ein und bepflanzten das Hochland damit! Was für eine segenbringende Tat!

 

„Gestatten Sie, dass wir an Ihrem Tisch noch Platz nehmen?“, so fragt ihn einer der beiden ihre Mäntel ablegenden Herren. Molar nickt nur und macht eine einladende Geste mit der Hand und ist sofort wieder in sein Buch vertieft, das ihm genügend Stoff bietet, seine Phantasie anzufeuern. Die Mädchen sollen sehr freizügig sein, so heisst es hier. Ob ich mich dort auch „verjüngen“ kann wie in Hildes Armen? Vielleicht sollte ich sie fragen, ob sie als meine Sekretärin mitkommen möchte. Natürlich, Lilia darf nichts von unserem Verhältnis wissen, sonst gibt es Ärger. Aber Heidrun und ihre Kinder müssen auf jeden Fall mitkommen. Hoffentlich werden Lilia und meine Schwester sich im „Paradies“ besser vertragen als auf deutscher Erde.

 

„...Shanghai fällt bestimmt bald“, so belauscht der Madagaskarberauschte ein Gespräch vorerst mit einem, schliesslich mit beiden Ohren. „Ich sage dir, Emanuel, Mao Tse-tung wird noch bis Ende dieses Jahres seinen Gegner Tschiang Kai-schek völlig besiegen und ihn nach Formosa verdrängen. Und weisst du, was dann geschieht, der Chinese und der Russe verbinden sich und fallen über Europa her. Stelle dir vor, zehn Millionen „gelber“ chinesischer Soldaten werden ein sacco dell’Europa veranstalten, und die ganze westliche Zivilisation wird untergehen wie einst die griechische und die römische. Dante, Shakespeare, Leonardo, Goethe, Mozart, Beethoven, Wagner, Mann, sie alle hätten sich dann umsonst „abgerackert“. Die Überlebenden des untergegangenen Abendlandes werden Maos und Lenins Schriften im Original zu lesen und als enthumanisierte Wesen, Robotern gleich, in Fabriken zu arbeiten haben.“

 

Hier drängt sich der von seiner „Märcheninsel“ plötzlich abgetriebene und in die wilde See des Kampfes zurückgerufene dichtende Weltbeglücker in das Gespräch ein:

 

„Entschuldigen Sie bitte, wenn ich mich einmische. Sie glauben wirklich, dass Deutschland und die Schweiz von einer „Gelben Pest“ heimgesucht werden werden?“

 

„Aber natürlich“, so beginnt der mit Emanuel Angeredete. „Im Grunde wäre das von zwei Möglichkeiten noch das kleinere Übel. Denn das grössere besteht darin, dass der Verlierer des bald stattfindenden Dritten Weltkrieges - und das wird der „zivilisierte“ Westen sein - als letzte Verzweiflungstat die Atombombe wirft, womit der Gegner herausgefordert wird, ein Gleiches zu tun. Nun, verehrter Herr, Sie können sich leicht ausrechnen, dass wir dann ein ebenso unbelebter und verseuchter Planet sein werden wie der Mars.“

 

Molar: Aber der Chinese besitzt doch gar keine Atombombe?

 

Erster Herr: Nun, er wird sich seinem kommunistischen Bruder vorläufig anschliessen, und dieser wird in sozialistischer Verbrüderung für beider Wohl beziehungsweise Unheil zu handeln wissen.

 

Molar: Sie sehen die Dinge zu pessimistisch. Die ganze Welt hat doch gerade erst einen verheerenden Weltkrieg überstanden, und alle Menschen sehnen sich nach einem andauernden Frieden. Glauben Sie nicht, dass Sie mit Ihrer Kriegsprognose und Weltuntergangstheorie ein wenig zu voreilig sind?

 

Zweiter Herr: Aber werter Herr ... ?

 

Molar: Dr. Bröckelberger-Molar!

 

Zweiter Herr: Aber werter Herr Doktor! Sehen Sie nicht, wie alle Welt weiterhin wettrüstet und allen voran der Russe? Er glaubt immer noch, bei der Aufteilung Europas zu kurz gekommen zu sein. Er hätte sich am liebsten noch Finnland, Jugoslawien, Österreich und ganz Deutschland einverleibt, von Annexionsgelüsten in Asien einmal ganz abgesehen. Das Ziel Stalins ist der Weltkommunismus unter der Vorherrschaft der Sowjets. Diese werden auch immer weiterkämpfen, um sich nach und nach das zu holen, was ihnen bisher versagt geblieben ist.

 

Erster Herr: Haben Sie, Herr Doktor, schon in der Zeitung gelesen, dass zwölf der Weststaaten sich zu einem Atlantikpakt zusammenschweissen wollen, zu einem Militärbündnis also, das den kommunistischen Aggressionsabsichten Widerstand zu bieten in der Lage ist? Nun, Sie können sich denken, dass der Russe daraufhin ein ebensolches Bündnis mit seinen besetzten Satellitenstaaten schliessen wird. Die Welt rüstet sich. In fünf Jahren geht es spätestens wieder los. Der Untergang des Abendlandes steht vor der Tür.

 

Zweiter Herr: Daher bedarf es jetzt der Vereinigung aller friedliebenden Menschen, um mit ganzer Anstrengung zu versuchen, das dräuende Unheil abzuwenden und vor allem den vielen noch in falschen Zukunftsträumen sich wiegenden Mitbürgern die verschlafenen Augen zu öffnen, bevor es „wieder einmal“, oder sollten wir besser sagen, bevor es „endgültig“ zu spät ist.

 

Molar: Ich würde ja gerne mit ganzer Macht mithelfen, denn als Dichter könnte ich die richtigen Worte zum Anruf an die Menschheit finden. Aber ich werde mich schon in einigen Monaten auf der Friedensinsel Madagaskar ansiedeln und somit das tobende Weltenmeer nur von jenem gesicherten Eiland aus beobachten können.

 

Erster Herr: Wenn Sie, werter Herr Doktor, ein wirklicher Dichter sind, dann würden Sie sich mit aller Macht für die Erhaltung der Kultur und ihrer Menschen in der westlichen Welt einsetzen. Denn entziehen Sie sich dieser Verantwortung, schaufeln Sie Ihrem eigenen Schaffen auch das Grab. Gerade die Dichter haben sich heute der grossen politischen Herausforderung zu stellen und mitzuwirken an dem Bestand dessen, was die europäische Zivilisation hervorgebracht hat. Kneifen Sie vor dieser moralischen Verpflichtung, machen Sie sich nicht nur vor dem eigenen, sondern vor dem Gewissen der ganzen friedliebenden Menschheit schuldig.

 

Molar: Aber ich könnte doch als korrespondierendes Mitglied einer pazifistischen Zeitschrift Beiträge senden.

 

Zweiter Herr: Das wäre noch schöner! Ein Dichter, der sich feige auf einer isolierten Friedensinsel ausruht, ruft den an der Front für die Freiheit der Menschheit sich einsetzenden Pazifisten zu, sich noch eifriger um Frieden bemühen zu wollen. Nein, wer mit „friedlichen Waffen“ mitstreiten will, muss sich mit seiner eigenen Person dem Kampf stellen. Nur dann kann er überzeugend wirken.

 

Erster Herr: Was wollen Sie eigentlich in Madagaskar, diesem moskitogeplagten, pestverseuchten und tropenheissen Land? Glauben Sie etwa, Hitler hätte bei seinem Plan, die europäischen Juden dort auszusetzen, daran gedacht, sie dem „Paradies“ zuzuführen? Ganz bestimmt nicht. Für ihn bedeutete jene unwirtliche Erdanhäufung im Indischen Ozean die letzte Hölle auf Erden. Entscheiden Sie sich, ob Sie ein Höllenbewohner oder ein sich dem Endkampf stellender Friedensapostel sein wollen. Nun, wir müssen gehen. Hier haben Sie meine Visitenkarte für den Fall, dass Sie sich anders entschliessen sollten. Auf Wiedersehen!