Die Pardieseische Insel

Die Schweiz, die aus fünfundzwanzig Kantonen gebildete Republik, in und an der europäischen Alpenkette gelegen, hatte sich im Ersten wie auch im Zweiten Weltkrieg neutral verhalten und war deshalb auch „gerechterweise“ politisch unbelästigt geblieben, obwohl beide Male der Krieg alle an sie grenzenden Länder in seine Gewalt riss, so dass es dem Vier- bis Fünf-Millionen-Volk jeweils ratsam schien, aufs höchste alarmiert zu sein, indem man sich zur Abschirmung unter Waffen bereithielt, um sich gegen eventuelles Auf- und Eindringen nach bestem Vermögen wehren zu können. So hatte dieser Friedensstaat auch jenen letzten und zugleich grössten Krieg des Planeten Erde „ungeschoren“ überstehen können, hatte auf eigenem Gebiet keinerlei Einbussen an Menschenleben oder Gebäuden zu verzeichnen und wurde dementsprechend nach dem Weltkampf von den aus den Trümmern ihrer einst blühenden Städte und aus dem Schutt ihres vormals berauschten Nationalbewusstseins vorsichtig, weil noch verängstigt, hervorschauenden, kleinmütigen und „geviertelten“ Grossdeutschen als das zwischen Schneebergen und Seen liegende „Paradies auf Erden“, ja, als die „heile Welt“ überhaupt, angesehen. Wen konnte es also wundern, dass der langsam wieder Mut fassende und doch noch seelisch wie geistig „zerstückelte“ und von der Aussenwelt auf die Anklagebank verwiesene deutsche nur allzusehr erpicht war, so es die Nähe und die Umstände möglich machten, dieser Insel des Friedens einen Besuch abzustatten, um sich vielleicht eine von jenen zwei Handspannen grossen Tafeln Vollmilchschokolade, ein Pfund echten Bohnenkaffee, oder was immer das „Schlaraffenland“ zu bieten hatte, vom eigenen, mühsam ersparten Geld zu erstehen. Und dass der Schweizer froh war, seine Konsumherstellungsindustrie im „inneren“ Aussenhandel wieder blühen zu sehen, war er nur allzu bereit, den halb mit Schrecken und Anklage, halb mit Mitleid und Opferbereitschaft betrachteten deutschen mittels einer Tagesaufenthaltsbescheinigung die Möglichkeit zu geben, an den Grenzorten ihrem Einkaufsbedürfnis nachzukommen. Wer jedoch weiter ins Land reisen wollte, dem wurde mit Misstrauen begegnet, denn allem, was sich politisch im „Dritten Reich“ ereignet hatte, hatte man argwöhnisch, weil im eigenen Bestand sich bedroht fühlend, zugeschaut. So musste nun jeder deutsche, der für mehrere Tage oder gar Wochen weiter hinein in den Alpenstaat dringen wollte, triftige Gründe haben und nachweislich von integerster Person sein, um eine Einreisegenehmigung erstehen zu können. Wer aber eine schriftliche Einladung vorweisen konnte mit der Versicherung, im Lande bei Verwandten oder Freunden aufgenommen zu werden, dem wurde meist ohne Verzug die ersuchte Reisebewilligung ausgestellt.


Der von uns beäugte Vordichter und „buchenswerte“ Held unserer episch-dramatischen Vorstellung befindet sich auf der Fähre, die sich zwischen Meersburg und dem Konstanz zugegliederten Ortsteil Staad mit einem Bauch voller Autos über den Bodensee bewegt. Schade, dass ich ein wenig von meinem Verkäuferschwung verloren habe. So fahre ich den ganzen Tag auf der Fähre hin und her und versuche meine restlichen Bastschuhe zu vertreiben. Wie es Lilia jetzt wohl ergehen mag? Hoffentlich gelingt ihr alles wunschgemäss. Sie ist eine grossartige und tapfere Frau, die es verdiente, von mir heftig geliebt zu werden. Wenn ihr und Wahrfried etwas zustossen würde, wäre das sehr schrecklich für alle von uns. Ihr wird schon alles gelingen. Ich will ganz zuversichtlich sein. Dort an dem Tisch sitzt vor seinem Glas Bier ein feingekleideter Mann. Er ist bestimmt ein Schweizer. Ich will doch gleich einmal versuchen, ihm ein Paar Bastschuhe zu verkaufen.

 

Molar: Guten Morgen, werter Herr! Mein Name ist Dr. Bröckelberger-Molar. An Ihrem Finger sehe ich einen goldenen Ehering und schliesse mit Verlaub daraus, dass Sie eine werte Gemahlin zu Hause auf sich warten haben. Wäre es für diese nicht von angenehmster Überraschung, von ihrem von der Reise heimkehrenden, geliebten Mann mit einem Paar grossartigen und haltbaren Bastschuhen, die gerade für die wetterwendische Jahreszeit dem einmal sich zu kalt, dann wieder sich zu hitzig fühlenden Fuss einen angenehm gleichbleibend warmen Ausgleich gewähren, beschenkt zu werden?

 

Der Angeredete: D e r und Doktor? Ein galanter Bettler ist er, ein Möchtegern und Lügenfein! Darf ich Sie fragen, welchen Doktortitel Sie sich anmassen?

 

Molar: Ich bin Doktor der Pharmazie, und meine Dissertation befasste sich mit dem Thema: Fett- und Nebenprodukte der Friedens... äh ... Ölpalme. Wie kann mir bloss ein solch fataler Versprechungsschnitzer passieren? Zu dumm!

Der Reisende: Das ist ja ganz erstaunlich! Darf ich Ihnen die Hand schütteln und mich vorstellen? Mein Name ist Stämpfli. Ich bin Margarinefabrikant aus Zürich, und, um gleich damit herauszurücken, ich komme soeben mit meinem Wagen aus Frankfurt, wo ich mich bisher vergebens bemühte, einen Fachmann aufzutreiben, der etwas von Pflanzenfetten verstünde. Sie schickt mir der glückliche Zufall oder, wie Sie als Akademiker wohl sagen würden, der deus ex machina, in die Arme. (Wenn er gewusst hätte, dass auch du mittels deiner Vorstellungskraft mitgewirkt hast, dann hätte er bestimmt den Singular in ein pluralisches „dei“ umgewandelt und uns beide vergöttlicht.) Ich kann mir nicht denken, dass Sie sich als wohlgebildeter Mann für den Rest Ihres arbeitsverbundenen Lebens damit vergnügen wollen, ein Dasein als anbettelnder Schuhverkäufer zu fristen. Bin ich in meiner Annahme richtig, Herr Doktor?

 

Molar: Aber vollkommen, werter Herr Stämpfli! Auch ich habe mir schon Gedanken über neue Erwerbsmöglichkeiten durch den Kopf gehen lassen. Wenn ich Ihnen meine Dienste anbieten darf, so verfügen Sie ganz frei über mich, ich habe eine mehrköpfige Familie und wohne zur Zeit in einer der Meersburger Baracken.

 

Stämpfli: Was Sie nicht sagen! In Meersburg, einem der Prunkjuwele der deutsch-mittelalterlichen, beschaulichen Baulichkeit, gibt es Baracken?

 

Molar: Nun, diese liegen natürlich in einem engen Tal versteckt, in das ein Stadtbesucher wohl kaum gelangen dürfte.

 

Stämpfli: Ja Herr Doktor, wir müssen unbedingt uns einmal ausführlich miteinander unterhalten. Können Sie mich vielleicht noch diese Woche in Zürich besuchen kommen? Hier ist meine Visitenkarte.

 

Molar: Ja, ich könnte schon morgen abend in Zürich sein, so ich die Aufenthaltsgenehmigung erhalten habe. Wäre es Ihnen, verehrter Herr Stämpfli, möglich, mir jetzt auf einen Papierbogen einen Einladungsbrief zu schreiben, so dass ich keinerlei Schwierigkeiten an der Grenze haben werde?

 

Stämpfli: Aber natürlich! Ich erlaube mir, Ihnen auch ein Hotelzimmer auf meine Kosten reservieren zu lassen und Ihnen die Hin- und Rückreise mit der Eisenbahn zu erstatten.


Am übernächsten Abend befindet sich unser Öldoktor in der Wohnung des Herrn Stämpfli.

 

Stämpfli: Ich bin froh, werter Herr Doktor, dass Sie meiner Einladung „Folge geleistet“ (einer jener verqueren Ausdrücke der deutschen Sprachverirrung) haben. Ich stelle schon Margarine aus Kokos- und Erdnussfetten her, kann aber leider nur geringe Mengen von Margarine aus Ölpalmfetten erzeugen, dass die Nachfrage nach diesem Rohprodukt grösser ist als das Angebot. Und sein Welthandel befindet sich ausschliesslich in den Händen der Franzosen und Engländer, die verständlicherweise zuerst ihre eigenen Länder zu beliefern haben. Ich bin vor einigen Monaten nach Madagaskar gefahren, um nach günstigen Plantagen Ausschau zu halten, und kaufte auch sogleich einige Dutzend Quadratkilometer an zumeist noch mit der Ölpalme zu bepflanzendem Anbaugelände. Sie sprechen doch Französisch, wie ich hoffe?

 

Molar: Ja, natürlich! Ich habe sogar Rodins „Testament“ als erster ins deutsche übertragen.

 

Stämpfli: Nun, das ist gut. Aber von Kunst wollen wir jetzt nicht reden. Ich benötige auf dieser grossen Insel im indischen Ozean einen klar denkenden, sachlichen Fachmann, der einmal die Plantage leitet, zum anderen sich genau mit der Ölbaumbepflanzung, der nötigen Düngung, der Schädlingsbekämpfung und der Ölgewinnung aus den roten Früchten auskennt. Würden Sie sich in der Lage sehen, eine solche Plantage zu leiten?

 

Molar: Ich denke schon. Habe ich mich doch ausgiebigst mit der Ölpalme beschäftigt und mich theoretisch genug ausgebildet, ihr auch nun praktisch auf den Leib rücken zu können.

 

Stämpfli: Als Plantagenleiter wird Ihnen und Ihrer Familie ein dreistöckiges Haus mit etwa fünfzehn geräumigen Zimmern zur Verfügung stehen. Ich werde Ihnen zwei Gärtner für den tropischen Blumengarten, zwei Köche und zwei Hausgehilfinnen gewähren nebst einem Fahrer für Ihr Privatauto. Etwa neunzig Arbeiter, und bei Bedarf mehr, werden Ihnen unterstehen. Ich zahle Ihnen ein Monatsgehalt von umgerechnet zweitausend Mark, womit Sie sich den höchstbezahlten deutschen Angestellten in der heutigen Welt hinzurechnen dürfen. Also, schlagen Sie ein?

 

Und Molar glaubt seinen Ohren nicht trauen zu dürfen: Das klingt alles viel zu phantastisch. Ich soll auf einmal keine Not mehr erleiden, soll wie ein Grossgrundverwalter schalten und walten dürfen? Ja, natürlich schlage ich ein. Ich bin doch kein Dummkopf. Ein solches Angebot darf man nicht ausschlagen. Selbstverständlich sage ich „ja“*. Ich stehe Ihnen ab sofort zur Verfügung.

 

Somit erheben sie die gefüllten Sektgläser und stossen auf das Gelingen ihres beschlossenen Unternehmens an. Der Margarinefabrikant zeigt unserem „theoretischen“ Ölgewinner, dem nun die Friedenspalmen schon zu wedeln scheinen, Photographien seiner jüngst erstandenen Farm und erzählt ihm über die Annehmlichkeiten dieser „paradiesischen Märcheninsel“. Der neue Arbeitgeber verspricht seinem mit einem Vorschuss angeworbenen Sachverständigen, sich um die notwendigen Reisedokumente zu bemühen, so jener ihm nur in den nächsten Tagen alle personellen Unterlagen über sich und seine Familie zukommen lassen wolle.