Die es verdienen, Mensch zu sein

Heute wollen wir unseren nach der Drostestadt Meersburg zurückreisenden Vordichter dichtend inspirieren. Ich habe hier ein Gedicht für ihn bereitliegen, das seiner pazifistischen Grundhaltung angemessen ist. Damit du nicht in deiner Zuschauerrolle erstarrst und deiner dichterischen Vorstellung Licht auszuschalten geneigt sein mögest, stelle ich mir vor, dass es dir von angenehmer Kurzweil sein dürfte, dich selbst als inspirator ex altis coelis zu betätigen und den poetischen „Zurauner“ zu spielen.

 

Aber dieses titellose Gedicht hat ja Lücken! Wieso ist es eigentlich unvollständig?

 

Einem schöpferischen Geist, wo auch immer er sich befinden mag, muss stets Gelegenheit gegeben werden, mitwirken und mitvollenden zu dürfen. Dies ist eine der vielen uns bereiteten Vorhersehungen, die aus der Güte Gottes geboren wurden. Nun, dieses Gedicht ist nicht nur in seinem Äusseren lückenhaft, auch die erste Zeile der dritten Strophe hat zum Beispiel ihr Bedenkliches. Aber der inspirierte Geist soll die ihm vorgegebenen Formen und Inhalte dort, wo sie leer geblieben sind, nach bestem Dafürhalten selbst ausfüllen und das ihm bedenklich Erscheinende bedenken und womöglich ändern. Jeder echte Künstler wird in hohem Masse inspiriert, und er ist sich dessen auch bewusst. Nur der verblendete Künstler glaubt, alles oder fast alles aus eigenem Wollen oder Können geschaffen zu haben, und je eifriger er eine höhere Einflussnahme für sich bestreitet, desto weniger wird er ihrer auch teilhaftig geworden sein.

 

Wie soll ich es aber anstellen, ihm, wie du sagtest, „zuzuraunen“.

 

Nun, du hast beim letzten Gedicht beobachtet, wie ich es bestellte. Versuche es in ähnlicher Weise. Ich helfe dir schon, wenn Hilfe nötig sein sollte. Bedenke aber, dass du unseren Vordichter erst in die diesem Gedicht innewohnende Grundstimmung versetzt, so dass es ihm scheinen mag, als ob das Niedergeschriebene nur das „verdichtete“ Surrogat seiner ihn augenblicklich beschäftigenden Gedanken und momentanen Empfindungen sei.


Der weltmeerweit sinnende und - sorgende Vierkindervater, in dessen Geist sich schon die Inspiration zu rumoren anschickt, steht auf dem Bodenseeschiff „Mainau“, das ihn zu seinen Familienpflichten zurückbringen soll. Er blickt auf den eidgenössischen Friedensstaat am anderen Ufer. Vor noch nicht zwei Wochen stand ich auf diesem meinem Glücksschiff, das mir dann zum Elendsfloss wurde. Wie eigenartig, dass es mich heute wieder als einen Glücklichen an Bord aufnimmt. Ja, in spätestens drei Monaten bin ich in Madagaskar. Ich hatte Herrn Stämpfli nochmals nach Moskitoplagen und Pestgefahr befragt, aber er versicherte mir, dass das Klima dort von angenehmster Art sei, dass man sich gegen die „paar“ Stechmücken sehr leicht schützen könne und dass weiterhin von Pestilenzen seit Jahrzehnten nichts mehr vernommen worden sei. Aber meine äussere Arbeit als Verwalter und Ölsachverständiger muss ich mit meiner inneren Verpflichtung, am Menschheitsfortschritt dichtenddienend mitzuwirken, verquicken. Dieser über dem Heil Europas drohend sich erhebenden Hand mit dem Todesschwert muss die Waffe entwunden werden. Ja, ich sollte einen „Aufruf“ in Gedichtform verfassen und ihn in Zeitungen drucken lassen. Auch auf jener Märcheninsel voller Friedenspalmen darf ich mich nicht einer unbekümmerten Haltung zu den wichtigen Problemen unserer Menschheit anheimgeben. Ein Dichter wie ich muss stets durch das Wort zu wirken und zu bewirken suchen. Nein, passiv kann ich nie sein, denn Aktivität ist das Motto meines Lebens. Die Welt rüstet wieder. Sollte es wirklich zu einem „Dritten“ und „Letzten“ Weltkrieg kommen? Warum muss es wohl Krieg geben? Nur etwa, weil kriegerisch Gesinnte die Zügel des Staates in den Händen halten? (Beachte bitte, wie wenig Geschichtsbewusstsein er besitzt.) Warum müssen diejenigen, die Krieg wollen, auch die in Mitleidenschaft ziehen, die um jeden Preis den Frieden vorziehen? Ich verstehe die Erdenmenschen nicht. Der Krieg war kaum zu Ende gegangen, nur Trümmer blieben, dasshat man fest zu rüsten angefangen, um das zu holen, was verblieben... Das reimt sich ja! Das ist ja ein neues Gedicht! Nur schnell Stift und Papier hervorgeholt und es aufgeschrieben!

 

Und so schreibt der zum Diktat allzeit bereite und für uns geöffnete Dichtergenosse auf dem Planeten Erde das ihm lückenhaft Zugeflösste in Zeilen nieder.

 

Das ist ja hervorragend! Ich muss noch einige Lücken schliessen, eine Unebenheit bereinigen und einen Titel finden. Was für ein Glückspilz bin ich doch, der die Gnade hat, so etwas Wunderbares in Worte giessen zu dürfen. Die Geburt eines Gedichtes ist mir ein Phänomen. Was geschieht dabei in mir und was durch mich? Ja, wer immer mir zuraunt, wisse, dass das schöpferisch Geschriebene immer den Leser anzugehen habe und dass ich meinerseits immer bereit bin, mich als Wahrheitsvermittler zu seiner Erbauung und seiner allmählichen Erhöhung für Offenbarungen geöffnet zu halten.


Und in der folgenden Barackennacht betätigt sich Molar als Lückenschliesser, gibt seinem ihm zugeschleusten Bruchgedicht den Titel „Aufruf“ und schreibt es fein säuberlich in der ihm eigenen daumennagelgrossen Schrift auf einen Papierbogen.


AUFRUF

 

Der Krieg war kaum zu End gegangen,
Nur
Schrecken, Not und Trümmer blieben,
dasshat man fest zu rüsten angefangen,
Um das zu holen, was verblieben.

Könnt ihr denn niemals Frieden geben?
Muss es denn ewig heissen Krieg?
Gilt denn allein in eurem Streben
der Sinn:
zu sterben oder Sieg?

Wenn ihr Tod wollt, so stosst euch nieder,
Verschonet doch, die sagen: Nein!
Dies sind die wahren
Erdenbürger,
Die es verdienen, Mensch zu sein!

 

Molar: Ich hätte anstelle von Erdenbürger lieber „Sternenbürger“ gesetzt, aber ich darf den Leser nicht mit zu aussergewöhnlichen Vorstellungen belasten. Er könnte überfordert werden und meine Gedichte als ihm  z u  unverständlich zur Seite legen wollen. Nun, nach allem ist es doch wohl m e i n  Produkt, spiegelt es in verblüffender Weise meine ureigensten Gedanken wieder. Also, Molar, du darfst dir selber gratulieren. Schade, dass der Leser nichts von der Ausserordentlichkeit der Geburtsstunde der Dichtung zu wissen bekommt.


Nun, das ist aber doch die Höhe! Ich inspiriere und „beglücke“ ihn und werde obendrein auch noch von diesem „Schreiberling“ bedauert.

 

Autor lacht: Nun, im nachhinein habe ich ihn noch ein wenig inspiriert, denn der tragikomische Gegenstand unserer dichterischen Zuwendung bringt es mit sich, dass wir nicht „todernst“ sein dürfen. Sag, was hältst du eigentlich von diesem „abgeschriebenen“ Gedicht?

 

Es ist wahr und echt empfunden, aber doch noch jugendlich an Geist und Gemüt, ja, man könnte es fast als ein pubertäres Produkt ansehen, ohne dabei das Gereimte herabsetzen zu wollen.

 

Du sagst es. Man betrachte nur alles gründlichst aus unseres Dichters Relativität heraus, und man wird verstehen können. dass Molar die bewusste Zeile unbedenklich unverändert liess, lässt eben doch auch deutlich erscheinen, dass er in diesem Leben nur ein Vordichter und noch kein Genius der Sprache und des Gedankens ist. Im übrigen muss ich dich darauf hinweisen, dass ich nicht alle inspirierten Worte wie auch manch anderes farblich kennzeichnen will. Denn mir liegt daran, dass es für dich noch vieles selbst zu entdecken und zu färben gibt. Deshalb betätige ich mich auch nur als ein Farbskizzierer. Um unser Werk vollständig bis ins Detail farblich auszumalen, musst du deine eigene Vorstellungskraft bemühen.

 

Jetzt scheinst du mir gerade einen Pinsel in die Hand drücken zu wollen. Hoffentlich mache ich keine Kleckse.