Das Schloss ist möbliert

Als der beflügelte Lückenschliesser - ist doch sein ganzes Leben eine Lückenschliesserei - den einstmals von ihm in einem Brief an seine Eltern so bezeichneten „Paradiesesboden“ dieser deutschen Dichterstadt Meersburg betritt, begegnet er wenig später auf der Seepromenade der auf einer Bank unter einem der im Sommer angenehmen Schatten spendenden Bäume sitzenden und eine Katze auf dem Schosse streichelnden Frau Katzenbach, jener „Unterstadthexe“ aus der Bachgasse. „Grüss Gott, lieber Herr Doktor!“, so gellt es aus dem Munde in dem warzig-zerknitterten Gesicht der Buckligen. „Ah, schönen guten Tag, liebe Tante Katzenbach!“ - er spricht sie immer mit „Tante“ an. „Darf ich mich ein wenig zu Ihnen setzen, denn ich habe höchst Wichtiges zu berichten. In wenigen Wochen werden meine und Frau Heitmanns Familie nach einer afrikanischen Meeresinsel auswandern, wo es keine Kriegsstimmung, kein Flüchtlingselend und kein Barackendasein mehr geben wird. Ich habe eine Zusage erhalten, auf Madagaskar eine Grossplantage mit hundert Arbeitern leiten zu dürfen. Wir werden dort wohnen und bedient werden wie Fürsten und sogar ein eigenes Auto mit Chauffeur haben.“

 

Frau Katzenbach: Sie haben es gut! Herzlichen Glückwunsch! Ja, dann verlassen Sie uns also bald. Wie schade! Sie bedeuten mir so unsagbar viel, Herr Doktor.

 

Sie beginnt plötzlich zu weinen: „Dann gibt es niemanden mehr, der mich ‘Tante’ nennt.“

 

Molar legt seinen Arm um die vom Schicksal Behöckerte: „Liebe Tante, wissen Sie was? Wir nehmen Sie einfach mit! Ja, ganz einfach! Ich werde Herrn Stämpfli, meinen Arbeitgeber, bitten, Sie als einen glückverheissenden Stern ins Inselparadies mitnehmen zu dürfen.“ Die so Getröstete blickt vertränten Auges auf ihren verehrten Dichterdoktor und entgegnet mit einem Lächeln: „Das ist sehr lieb von Ihnen, mich verfluchte Ausgeburt in ein Paradies mitschleppen zu wollen. Aber ich kann dennoch nicht mitkommen, denn würde es sich nicht so verhalten, dass alle Insulaner, so sie meiner ansichtig werden, vor Entsetzen alles stehen und liegen liessen und sich in das Meer stürzten und dort womöglich von Haien gefressen würden? Nein, nein, das geht nicht! Ich bleibe bei meinen Katzen und versuche, mit Häkelarbeiten meinem Lebensabend geruhsam entgegenzusehen.“


Am Ödenstein, einer von Eichenästen beschatteten Aussicht, auf der schon weiland Deutschlands Kaiser Friedrich Wilhelm der Erste mit seinem Thronfolger Friedrich und dem Grossherzog von Baden über das Alte Schloss hinweg nach den Schweizer Alpen hinüberblickte, stösst unser Altfrauentröster auf seinen blinden, doch unbeirrt - das weisse Stöckchen vor sich ausgestreckt - einherschreitenden Barackennachbarn Dörr, welchem er mit der ihm eigenen Begeisterung über Madagaskar berichtet und schliesslich ein gleiches Angebot macht wie der buckligen Winzer-Alraune. „Nein, nein“, so wehrt der geduldig Zuhörende ab, „mein Platz ist hier unter den Flüchtlingen, unter denen also, die meine, wenn auch bescheidene, Hilfe benötigen.“ „Aber wir“, entgegnet der Abwerber, „benötigen Sie und Ihre seherischen Fähigkeiten, lieber Onkel Dörr, doch ebenfalls. Sie werden uns fehlen, und Wahrfried wird ganz traurig sein, Sie nicht mehr als seinen Lieblingsonkel besuchen zu können.“ „Trotzdem“, so kommt die Antwort, „ich bleibe dabei! Meine Verpflichtung bleibt vorläufig barackengebunden.“

 

Molar: Übrigens, wie steht es mit der Aufführung Ihres Auferstehungsliedes?

 

Dörr: Deswegen will ich gerade zum Stadtpfarrer gehen. Wir haben noch einiges zu organisieren. Denn ich muss doch schon bald mit den Chorproben beginnen.

 

Molar: Ach, was mir bei dieser Gelegenheit noch einfällt. Ich bin gerade im Begriff, ein dreistrophiges Gedicht fertigzustellen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass es Sie reizen würde, es als eine Art „Hymne an die Menschlichkeit“ für einen vierstimmigen Chor zu komponieren.

 

Dörr: Das klingt natürlich sehr verlockend, aber wie Sie wissen, komponiere ich seit mehreren Jahren nicht mehr, von der Auferstehungskantate einmal abgesehen, dassjene sich zu sehr meinem Geiste aufdrängte und nicht abzuschütteln war, bis ich sie mit Hilfe Ihrer Frau aufgeschrieben hatte. Diese Kantate ist zugleich mein Lebens-“Abgesang“ wie auch mein Vermächtnis, denn ich werde schon hinter der irdischen Bühne „erwartet“.


„Was du mir dassüber deine Begegnung mit dem ‘Führer’ erzählst“, so knüpft die vollbusigblusige Rosa an den noch ganz zu Ende zu spinnenden Faden des Berichtes ihrer Freundin an, „ist erschütternd. Was für ein trauriges Ende er doch nehmen musste. Aber er vergiftete sich nicht feige wie der Reichspropagandaminister und der Reichsmarschall. Nein, er nahm die Pistole und wählte den ehrenhaften Selbsttod.“

 

Heidrun: Heute schimpfen sie alle auf ihn, diese gemeinen Verleumder und Verräter! Aber damals wären sie froh gewesen, von ihm die Hand geschüttelt bekommen oder ein Ehrenabzeichen erhalten zu haben. Ich werde nie etwas gegen unseren „Führer“ sagen, denn für mich ist und bleibt er der „Messias“ des deutschen Volkes, auch wenn die vielen Judas Ischariots ihn von der Vollendung seiner grossen Sendung abhielten. Ja, wenn er aus irgendeinem „Elba“ (Napoleon kehrte einst von seiner Verbannungsinsel Elba siegreich nach Frankreich zurück) zurückkäme, würde ich ihm wieder folgen. So einen grossen Mann wie ihn hat die deutsche Geschichte noch nie besessen.

 

Rosa: Ja, meine Liebe, du sprichst mir ganz aus dem Herzen, obwohl ich glaube, dass er zuletzt doch noch Fehler machte.

 

Heidrun: Das ist nur den Verrätern in seinen eigenen Reihen zuzuschreiben.  D i e haben seine Befehle boykottiert und gegen ihn intrigiert. Selbst Himmler, dieser tollwütige Judenverfolger, hat zum Schluss noch versucht, seinen Befehlsherren zu hintergehen und mit dem Feind Verbindungen aufzunehmen.

 

Diese Abwälzungs- und Reinigungsversuche für einen in ihrer Vorstellung existierenden „makellosen“ Volksbeglücker werden jäh unterbrochen, als ihr Sohn Eckard hereingestürmt kommt und ruft: „Mutti, Onkel Hans Winfried ist gerade aus der Schweiz zurückgekehrt und hat uns Kindern allen eine Tafel Schokolade mitgebracht!“

 

Heidrun: Kommt, lasst uns alle hinübergehen und ihn begrüssen!


„So, jetzt hört mir alle einmal zu, denn ich habe euch Erstaunliches zu erzählen, so dass ich mir vorkommen muss wie ein auf die Erde herabgesandter Verkündigungsengel.“

 

Und die erwachsenen Familienmitglieder, ausser der abwesenden Hausherrin, einschliesslich Rosa setzen sich auf die Stühle, während die anwesenden Kinder auf dem Teppich Platz finden und dem Familienoberhaupt mit klopfendem Herzen zuhören und sich dabei gelegentlich von der mitgebrachten Schokolade silberpapierknisternd bedienen.

 

Molar: In einigen Monaten werden wir uns schon alle auf einer Märcheninsel bei Afrika befinden. Wir werden in einem Schlösschen wohnen, und wir werden einige Diener und ein eigenes Auto mit Chauffeur besitzen. Ich bin als Grossgutsverwalter und Ölpalmspezialist eingestellt worden. Wir werden alle keine Sorgen mehr im Leben haben. Jetzt wird sich uns das Schicksal von der guten Seite zeigen.

 

Wolf: Dieser Schwätzer! Ich glaub’ ihm kein Wort. Dieser Knallkopf kann noch nicht einmal eine Familie führen, geschweige denn eine Plantage mit Dutzenden von Arbeitern. Wer hat dich denn eingestellt?

 

Molar: Ein weltweiter Margarinekonzern, der froh war, in mir den lang gesuchten Friedens... ich meine Ölpalmexperten gefunden zu haben.

 

Heidrun: Hat man dir auch wirklich zugesagt, dass ich und meine Kinder mitfahren dürfen?

 

Molar: Zugesagt noch nicht. Aber sicher wird der Vorstand auch diesem Gesuch bereitwilligst entgegenkommen.

 

Rosa: Und was wird aus der Drucklegung deiner Gedichte? Du hast doch schon achthundert Mark investiert.

 

Molar: Ich werde am Wochenende nach München fahren, um diese Angelegenheit zu regeln. Wenn Lilia zurückkommt, musst du, lieber Wolf, ihr auseinandersetzen, dass ich in dringender Angelegenheit auf kurze Zeit verreist bin.

 

Heidrun: Können wir unsere Möbel mitnehmen?

 

Molar: Die benötigen wir auf Madagaskar nicht mehr. Das Schloss ist möbliert.

 

Rosa: Aber dann ist Lilia doch umsonst über die Grenze gegangen?

 

Wolf: Auf keinen Fall! Die Möbel sind wichtig. Was hier herumsteht, ist doch nur wurmstichiger Notbehelf. Und glaubt Hans Winfried doch ja nicht, wenn er mit seiner Inselphantasie uns unbedingt „auf die Palme bringen“ will. Nein, mein Bester, aus Madagaskar wird nichts! Das kann ich dir schriftlich geben, so wahr ich Lore... äh, Wolf von Trotha heisse!

 

Heidruns Töchter beginnen mit vorgehaltener Hand zu kichern. „Papi“, so fragt die kleine Irmgard, ihre von der warmgewordenen Schokolade klebrigen Finger abschleckend, „gehst du morgen mit uns zur Fastnacht?“ Und auf das „Ja“ des erhitzten Angeredeten erfolgt zugleich die energischer werdende Stimme des sich nun mit der Tageszeitung erhebenden ohrenabstehenden Wolf: „Nachdem wir uns ein wenig mit Zukunftsmusik berieseln liessen, möchte ich euch aus der palmwedelnden Utopie wieder zurück auf den alten Boden deutscher Realitäten stellen. Habt ihr übrigens den gestrigen Artikel in der Zeitung über die Flüchtlingsgesetze gelesen? Nein? Dachte ich es mir doch! Nun, dann darf ich euch einmal diese Hiobsbotschaft vorlesen. Im Paragraphen 32 des ersten Lastenausgleichsgesetzes der badischen Landesregierung steht folgendes: Flüchtling im Sinne dieses Gesetzes ist, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger am 1. September 1939 oder zu einem späteren Zeitpunkt den Wohnsitz oder den dauernden Aufenthalt ausserhalb des Bereiches der vier Besatzungszonen und der Stadt Berlin hatte und dorthin nicht zurückkehren kann. - Das heisst mit anderen Worten, dass du und deine Schwester nur als Evakuierte angesehen und somit hinfort von allen Flüchtlingsbeihilfen seitens des Staates ausgenommen sein werden, während Lilia und ich sowie Loderers, Kuglers und Recknagels zu den wenigen Flüchtlingen des Sommertales zählen, die im Namen des Gesetzes „echte“ Flüchtlinge sind. Ihr werdet also von nun an samt den geldlichen Unterstützungen des Staates auch von seinen Sonderzuteilungen an Altkleidern, Altmöbeln oder sonstigem ausgenommen sein.

 

Und Heidrun werden die Augen feucht, sie stammelt noch: „Aber dann können wir uns doch alle gleich erhängen! Nein, es ist zum Weinen!“ Und als ob dieses letzte, unter beginnendem Schluchzen hervorgebrachte Wort das Stichwort für die übrigen Statisten gewesen sei, den nun einfallenden refrainartigen Chor zu bilden, beginnt nun ein Gewinsel, Geheul und Geklage, dessen sich ausser dem Friedenspalmschwinger und dem Gesetzesverkünder nur Rosa und Hermann enthalten können. Ersterer versucht auf seine Schwester tröstend einzuwirken: „Aber Heidrun, höre doch! Wir werden in drei Monaten schon in Madagaskar sein, und dort wird es ganz egal sein, ob wir als Evakuierte oder als Flüchtlinge die Friedensinsel betreten.“ „Ach“, so tönt es ihm aus leidvergrämtem Mund zurück, „ich glaube dir ja doch nicht! Das ist zu schön, um wahr zu sein. Das Paradies ist für uns noch nicht geöffnet.“