Unser Bastschuhverkäufer steht in Ulm auf dem Bahnsteig. In zweiundzwanzig Minuten kommt der Zug nach München. Ja, das war gut. Fünfundzwanzig Paar Schuhe habe ich auf der Fahrt von Friedrichshafen nach Ulm absetzen können, also im ganzen habe ich seit heute morgen fast fünfzig Paar verkauft. Jetzt habe ich mich nur noch mit zwei Säcken und zwei Taschen abzumühen.
dassschallt es durch den Lautsprecher: „Bitte am Gleis drei zurücktreten, der Schnellzug von München nach Stuttgart läuft soeben ein!“ Ja, warum nehme ich nicht diesen Zug nach Stuttgart und fahre mit dem nächsten von dort nach München. So gewinne ich zusätzliche drei Stunden, in denen ich während der Fahrt verkaufen kann, denn wenn man als Verkäufer einmal „in Fahrt“ ist, dann darf man sein Verkaufsglück nicht unterbrechen. Wenn ich in München angekommen bin, muss ich mindestens noch einen Sack mit Schuhen losgeworden sein. Somit bittet der Kurzentschlossene einen aus dem Zugfenster herausschauenden Mann, ihm die von aussen zugehobenen vier Gepäckstücke nach innen zu ziehen, woraufhin unser Dichter selbst einsteigt und jene Drallungen weiter hinauf in die Gepäcknetze befördert. Und als der Zug sich anschickt abzufahren, beobachtet der geschickte Schuhverkäufer, in welchen Waggon der Schaffner einsteigt. Ja, er steigt hinten zu. Wenn ich also bastschuhverkaufenderweise nach vorne gehe, so könnte er mich vor Göppingen wohl kaum nach einer Fahrkarte fragen. Und danach werden wir sehen. Jetzt gleich an die Arbeit. Ich muss bis heute abend im ganzen hundert Paar Schuhe abgesetzt haben.
Somit begibt er sich von Abteil zu Abteil und offeriert seinen „Warmen-Wintergruss-vom-Bodensee-für-jeden-Fuss“. In Göppingen steigt jedoch der als letzter aufspringende Schaffner nicht, wie Molar vermutete, in den ersten Wagen ein, sondern irgendwo in der Mitte des Zuges und treibt somit den Fahrkartenlosen, ihm noch unbewusst, in die Falle. Unser Wortgewandter hat soeben in einem Abteil gleich drei Paar „winterliche Bodenseegrüsse“ absetzen können und tritt nun auf den Korridor hinaus, als er die Stimme des Kontrolleurs hinter sich hört: „Bitte, Ihre Fahrkarte!“ Der Angeredete holt seine mit Geldscheinen dick gewordene Brieftasche hervor und entnimmt ihr die Fahrkarte, gültig von Friedrichshafen über Ulm nach München. „Aber, werter Herr, Sie befinden sich im falschen Zug. Dieser hier fährt in die entgegengesetzte Richtung.“
Molar: Wie bitte? Habe ich richtig gehört? Dies ist nicht mein Zug nach München?
Schaffner: Nein. Dieser Zug fährt nach Stuttgart.
Molar: Nein, das darf doch nicht wahr sein. Ich habe in Ulm doch ausdrücklich noch einen Bahnbeamten gefragt, auf welchem Bahnsteig ich zu warten habe, und er nannte mir den Bahnsteig zwei.
Schaffner: Ja, das war schon richtig. Nur hätten Sie nicht den Zug auf Gleis drei, sondern den auf Gleis vier nehmen müssen.
Molar: Das ist aber ärgerlich, wo ich doch unbedingt heute noch in München sein muss. Wann kommt die nächste Bahnstation, damit ich sofort aussteigen kann?
Schaffner: Sie haben Pech. Wir haben gerade Göppingen verlassen. Jetzt müssen Sie schon ganz bis Stuttgart mitfahren.
Molar: Das ist ja ganz verwünscht. Es klappt ja alles wie am Schnürchen. Man sollte den Bahnbeamten beibringen, genauere Auskünfte zu geben. Ich muss doch diesbezüglich einmal einen Brief an die Bahndirektion schreiben. Wann geht also der nächste Zug nach München zurück?
Ich werde mal eben nachsehen“, lautet die Antwort. Und der die Trümpfe jetzt in der Hand Wissende wird, nachdem der im Buch Nachforschende und sich mit seiner Miene praktisch für das Missgeschick seines Beamtenkollegen Entschuldigende ihm die Abfahrtszeit samt Bahnsteig und Gleisnummer genannt hat, noch kecker und erklärt: „Bitte, lieber Herr Schaffner, machen Sie auf der Rückseite der Fahrkarte einen Vermerk, damit ich ohne neu zu kaufende Karte auch nach Ulm wieder zurückfahren kann.“ Und für den Einfallsreichen ergibt sich eine zusätzliche freie Fahrt.
Wir befinden uns nun in dem Zug, der nach München zurückfährt. Molar ist fleissig und hat bei seinem Verkauf beachtlichen Erfolg. Eben geht er an den leer zu sein scheinenden Abteilen der ersten Klasse vorbei. „Schade, dass heute kaum vornehme Leute mitreisen. Doch halt“, so durchfährt es ihn, „dasssass doch eine ältere weisshaarige Dame für sich allein. Dann wollen wir ihr doch gleich mal einen Besuch abstatten.“ Und er schiebt die mit einer Glasscheibe versehene Abteiltüre zurück und sagt, seinen Hut lüpfend: „Schönen guten Tag, gnädige Frau! Entschuldigen Sie, ich hoffe, ich störe Sie nicht gerade beim Lesen? Doktor Bröckelberger-Molar ist mein Name.“
Dame: Sehr angenehm. Von Gerstenberg ist der meine. Was will er wohl von mir? Kenne ich ihn denn? Sympathisch sieht er ja aus, auch wenn er ein bisschen aufdringlich zu sein scheint. Darf ich fragen, was Sie zu mir führt?
Molar: Ich bin ein reisender Dichter, der während der schlimmen Nachkriegsjahre, um seine Familie zu ernähren, gezwungen ist, Bastschuhe zu verkaufen.
Freifrau von Gerstenberg: So, Sie sind Dichter. Darf ich Sie fragen, was Sie schon veröffentlicht haben?
Molar: Leider habe ich noch keinen Verleger für meine Gedichte finden können. Ich werde mich jetzt aber in München wieder auf Suche nach einem solchen begeben. Sie scheinen sich für die Dichtung zu interessieren. Darf ich Ihnen vielleicht einige Gedichte aus meiner Feder zeigen?
Freifrau: Das wäre sehr nett von Ihnen. Setzen Sie sich doch, werter Herr.
Molar: Es wäre mir sicherlich ein grosses Vergnügen, aber ich habe noch bis München einige Schuhe zu verkaufen. Darf ich Ihnen vielleicht diese Gedichte (er holt sie aus der Seitenmappe seiner Schuhtasche hervor) zur Einsicht überlassen, während ich mich noch verkaufend betätigen will? Ich werde nachher wieder vorbeisprechen, so es Ihnen recht ist.
Freifrau: Jawohl, gehen Sie nur, ich verstehe Sie schon.
Zwei Stunden später nähert sich der Schnellzug den Vororten Münchens. Molar wischt sich den Schweiss von der Stirne: Das wäre geschafft. Diese Tasche ist nochmals leer geworden. Genau hundertundzehn Paar Schuhe habe ich heute verkaufen können. Das bedeutet einen Verdienst von über tausendfünfhundert Mark. Nicht schlecht für den Tageslohn eines Amateurverkäufers, vor allem wenn man bedenkt, dass der Arbeiterstundenlohn heute nur bei 1,30 Mark liegt. Soviel Geld habe ich noch nie in meinem Leben bei mir getragen. Die restlichen neunzig Paar verkaufe ich in den nächsten Tagen. Heute werde ich erst einmal ein gutes Hotelzimmer am Hauptbahnhof beziehen und dann einmal ausgiebig essen gehen. Das habe ich wirklich verdient. Lilia wird mir kaum glauben, dass ich an einem Tag über hundert Paar Schuhe verkauft habe. Zehn Mark pro Paar muss ich ihr ja mindestens abliefern. Aber was darüber hinaus abfällt, kann ich auch ausgeben. Ich sollte mir vielleicht einen neuen Mantel kaufen. Auch der Hut könnte besser aussehen. Winterschuhe benötige ich auch. Morgen gehe ich einkaufen. Sind dies etwa schon die Vororte Münchens? Ach ja, ich muss noch Frau von Gerstenberg aufsuchen. Das hätte ich beinahe vergessen. Jetzt aber schnell!
Molar hat keine Zeit mehr, einen Blick durch die Fenster zu werfen, durch welche man die nun in die Abenddämmerung gehüllten Ruinen der einst so „leuchtenden“ Stadt sehen kann. Viele Tausende oder vielmehr Hunderttausende von Bomben sind in den beiden letzten Kriegsjahren auf diese Stadt herabgefallen und haben ganze Strassen und Stadtteile in Ruinenfelder verwandelt, haben Tausende der sich in Bunker und Keller schützenden Verängstigten für immer vergraben. Und selbst heute, vier Jahre nach dem Krieg, wird immer noch Schutt weggeräumt, und - ja, wir können es gut erkennen - es wird auch schon wieder aufgebaut. Wird es ein neues Leuchten geben?
Molar erreicht das Abteil der Freiherrin, als diese sich gerade anschickt, ihren Koffer herunterzuheben. „dasskomme ich ja gerade noch rechtzeitig“, so lässt er sich eintretend vernehmen. „Gestatten Sie, dass ich Ihnen helfe, gnädige Frau Gräfin?’’ „Das ist sehr lieb von Ihnen“, so erwidert sie freudig. Im übrigen bin ich nur Freiherrin. Ich dachte schon, dass ich Sie gar nicht mehr sehen würde, und bereitete mir schon Sorgen, wohin ich Ihnen wohl die Gedichte nachschicken könnte. Ja, es gibt so viel darüber zu sagen, aber leider haben wir ja wohl keine Zeit mehr dazu. Bitte, nehmen Sie Ihre Gedichte wieder an sich. Sie sind sehr erstaunlich.“ „Wohnen Frau Freiherrin, wenn ich mit Verlaub fragen darf, hier in München?“, so fragt der ungenierte Vielfrager. „Nein, ich fahre noch heute nach Salzburg weiter. Ich befinde mich also nur auf der Durchreise, und mein Anschlusszug geht laut Fahrplan erst in vierzig Minuten weiter.“ „Dann können wir doch“, so entfährt es dem Redegewandten, „wenn es Ihnen, gnädige Frau Freiherrin, recht ist, noch eine Tasse Kaffee im Bahnhofsrestaurant zusammen trinken?“ Ja“, so entgegnet sie lächelnd, „das scheint eine gute Idee zu sein. So haben wir Gelegenheit, noch ein wenig zu plaudern.“
Der rüstige Dichter ergreift ihren Koffer nebst seiner eigenen Verkaufstasche, ruft, auf den Bahnsteig herabgestiegen, einen Gepäckträger herbei und weist ihn an, von wo, wie und wohin er sein Gepäck, mittlerweile zu einem und einem halben Sack zusammengeschmolzen, zu befördern habe, übergibt ihm ausserdem noch den Koffer der adligen Dame und begleitet diese, wie verabredet, zum Bahnhofsrestaurant erster Klasse.