Freuet euch mit mir

Am ersten Freitag der nun hereingebrochenen Fastenzeit verstarb in Meersburg nach mehrwöchigem Krankenlager die Lehrerin Holzmayer. Am Tage der Beerdigung, einem Montag, reihen sich alle Schüler auf dem Schulhof klassenweise auf und folgen in Zweierreihe dem Sarg, der auf einem gummibereiften Wagen von Pferden gezogen wird, die, von dem Totenkutscher gelenkt, über Schloss- und Marktplatz, dann durch das Obertor kommen und nun die immer steilere Anton-Mesmer-Strasse, vorbei an den holzgetäfelten und bemalten Leidensstationen des Erlösers aus Nazareth, zielstrebig hinaufstampfen. Ihnen voraus schreitet, das Gebetbuch in der Hand, der in klerikale Beerdigungsgewänder gehüllte Stadtpfarrer, welcher begleitet wird von einigen in kirchlichen Kleidern steckenden Messjungen - ein Ehrenamt der Schüler -, von denen einer das Kreuz, zwei andere die beiden mit Goldborten umrandeten Standarten vor sich hertragen. Der Geistliche stimmt ein lateinisch gesungenes Lied an, und die Messknaben antworten im Wechselgesang, ohne dabei zu vergessen, vor jeder der Leidenstafeln sich bekreuzigenderweise zu verbeugen. Oben auf dem Hügel liegt rechter Hand der Herrgottsacker, wo, dem unverständlichen Kirchenglauben zufolge, die Toten in ihren Grabkammern unendlich viele Jahre zu ruhen haben werden, bis die Posaune des *Jüngsten Gerichts sie einst aus ihrem Schlummer aufwecken wird, womit sie sich zu erheben und vor den ewigen Richter zu treten haben, der sein zum Himmel oder zur Hölle sendendes Urteil über die oftmals vergeblich hoffende Schar sprechen wird. Aber noch ist die Zeit einer allgemeinen Revision des Jenseitsglaubens nicht gekommen, weshalb es auch nicht verwunderlich zu sein scheint, dass der im Namen des Stellvertreters Christi amtierende Stadtpfarrer auch die so oft bei Beerdigungszeremonien gesprochenen Verse aus dem apokalyptischen Höllen-Johannes zitiert. Nicht alle Schüler können der Enge um das Grab wegen die eigentliche Beisetzung - das Herablassen des Sarges in die Gruft - mit Augen verfolgen, aber alle dürfen anschliessend, nachdem genug Gebete und Grabeshymnen erklungen und Weihgerüche geschwenkt worden sind, eine Handschaufel voll Erde auf die nun zu “Beerdigende” werfen, um somit der Abgeschiedenen ein letztes Lebewohl zu sagen. Ja, wer hätte geahnt, dass die nun Totgeglaubte in Wirklichkeit lebt, und, vom Fleische erstanden, dem Begräbnis ihres verwesenden Körpers, jener abgelegten Raupenhülle, aus unsichtbarer Nähe zusieht. Für die nun “Verschiedene” ist es ein grosser Tag, wie wir sehen, denn sie blickt mit anteilnehmender, ja sogar leidvoller Miene auf ihre Trauerschar aus Kummer darüber, über keine ihr bewussten Möglichkeiten zu gebieten, allen das “Letzte Geleit” Gebenden allerletzte Worte zuzurufen: Freuet euch mit mir! Ich habe es geschafft! Ich befinde mich in einem neuen Leben mit einem verjüngten Strahlenkörper. Mir geht es unsagbar gut! Ich fühle mich besser als je auf Erden. Glaubt mir!

 

Wahrfried ist der einzige, der dank seines blinden Onkels schon ein wenig mehr weiss und sich deshalb auch fragt, wo die liebe Frau Holzmayer wohl jetzt sein mag. Er tritt als letzter an das Grab und wirft ebenfalls eine Handvoll Erde in das ausgehobene Geviert und murmelt nachträglich ein: “Herzlichen Glückwunsch zum Auferstehungstag!” Er liebte seine frühere Lehrerin. Sie war eine Ausnahme unter den Lehrern der Volksschule, auch darin, dass sie nie schlug, weder mit der Hand noch mit dem Stock. Leider ist jetzt Koster ihr Nachfolger geworden. Aber man sagt, er sei nur zur Aushilfe da. Vielleicht bekommen wir bald einen neuen Klassenlehrer.


Und dassnach dem Ende der Beerdigungsfeier alle Schüler nach Hause gehen dürfen, bleibt Wahrfried noch auf dem Friedhof zurück (wird zurückgehalten). Und während Edelgard mit den Heitmanncousinen einen Abkürzungsweg nach dem Sommertal einschlägt, wird Hermann statt dessen von einer städtischen Jungenmeute dorthin gehetzt.

 

Wahrfried geht an den Gräbern vorbei: Wie viele der Unsichtbaren haben der Trauerfeier wohl beigewohnt? Ja, der Onkel Dörr, er weiss so viel. Und alles, was er sagt, das klingt so einfach, so überzeugend. Aber ich bin ja erst neun Jahre alt und weiss natürlich nur wenig. Wenn ich erst einmal so alt sein werde wie Onkel Dörr, dann werde ich bestimmt ebenfalls noch vieles hinzugelernt haben.

 

Er bleibt vor einem eigenartigen Grabstein stehen. Dieser besteht aus einem durch Stufen erhöhten, dreikantigen Marmorblock. Geheime Zeichen und Kreise sind darauf eingemeisselt: “F.A. Mesmer”. Wer mag das wohl sein? Die Friedhofsstrasse ist sogar nach ihm benannt. Ich muss doch mal Onkel Dörr fragen.

 

Und zur efeubewachsenen Mauer weitergehend, entdeckt er in dem Geränk einen mit Wappen geschmückten Grabstein und liest darauf den mit Goldschrift eingemeisselten Namen der Meersburger Turmdichterin: “Anna Elisabeth Droste Hülshoff”. Ja, nicht weit von hier steht ja ihr Haus, und im Alten Schloss soll sie auch gelebt haben. Papi erzählte uns einmal, wir hätten es alle dieser grossen deutschen Dichterin zu verdanken, dass wir jetzt in Meersburg wohnen. Was meinte er damit wohl? Die Droste ist doch schon seit über hundert Jahren tot. Hier neben dem Grab befindet sich eine Metalltafel, worauf eines ihrer Gedichte geschrieben steht. “Letzte Worte” heisst es.

 

Und Wahrfried liest wieder und wiederum dieses dreistrophige Gedicht. Ihm wird ganz eigenartig gross zumute. Das ist ja wunderbar. Ein solch schönes Gedicht habe ich noch nie gelesen. Es ist so natürlich und ungezwungen, wie aus dem Ärmel geschüttelt. Und doch so in die Tiefe dringend. Ich will zum mindesten die letzte Strophe sogleich auswendig lernen.

 

WEHT NÄCHTLICH SEINE SERAPHSFLÜGEL
DER FRIEDE ÜBERS WELTENREICH,
SO DENKT NICHT MEHR AN MEINEN HÜGEL,
DENN VON DEN STERNEN GRÜSS ICH EUCH!

 

Was ist wohl ein Seraph? Ich muss Onkel Dörr fragen. Ja, wenn ich die ersten Schlüsselblumen auf der Waldwiese finde, dann will ich zurückkommen und ihr einen Strauss davon auf das Grab stellen und bei jener Gelegenheit auch noch die beiden ersten Strophen auswendig lernen.