Du kennst deine eigenen Kinder nicht

Noch am selben Abend kann der stocklose und vor Glück strahlende Dr. Bröckelberger seiner sich wieder mit ihm versöhnenden Frau das dicke Kuvert übergeben. Sie fragt ihn nach dem Wieviel des Inhaltes und auch danach, ob er es denn nachgezählt habe. Dies verneint der Gemahl entrüstet: „Glaubst du denn, jemand würde seinen Freund betrügen?“

 

Lilia: Dein Freund in München hat dich auf jeden Fall betrogen.

 

Molar: Das glaube ich nicht. Er muss sich in einer Notlage befunden haben. Wenn ich ihn wiedertreffe, wird er mir bestimmt die ihn genötigt habenden Umstände erklären. Lieber denke ich zehnmal von einem Menschen gut, auch wenn er mich jedesmal erneut betrügen sollte, als dass ich nur einmal ungerechtfertigterweise schlecht von ihm denke. Letzteres könnte ich mir niemals verzeihen.

 

Lilia: Du bist ein Phantast, ein „Sternenbürger“, wie du dich oft nennst. Aber wir sind hier auf der Erde, und diese ist wahrhaft kein Paradies. Heute ist es an der Tagesordnung, dass Menschen ihre eigenen Familienmitglieder und Freunde denunzieren. Das hat es unter den Nazis gegeben, und das gibt es vornehmlich auch noch drüben bei den Stalinisten, aber nicht nur dort. Um eigene Vorteile zu erzielen oder aus Ideologie, verrät man den Nächsten. Die viel gerühmte christliche Nächstenliebe ist heutzutage gleich Null. Betrachte dir doch nur die Barackenflüchtlinge. Die Breitners sind mit den Kuglers verfeindet, und beide Familien hetzen auch noch andere gegen ihre Widersacher. Der eine stiehlt dem anderen das Holz, die Hühner, die Dachpappe und was sonst noch alles. Der Krieg hat die Menschen noch schlechter gemacht, als sie schon vorher waren. Man hat in den Zeiten der Not gelernt, wie man stehlen, lügen und schmeicheln muss, um überleben zu können. Jetzt haben alle so viel auf dem Kerbholz (das ist ihr „seelisches Sündenregister“), dass es ihnen ganz egal ist, ob noch ein wenig mehr dazu kommt oder nicht. Menschen wie du haben es heute schwer zu bestehen.

 

Molar: Aber gerade deshalb ist es um so notwendiger, dass wieder Menschenliebe unter die verwahrlosten und verrohten Menschen gebracht wird. Man darf nicht kleinmütig beigeben und vor dem Hass, dem Neid und der Missgunst kapitulieren. Im Gegenteil Wir müssen alle guten Kräfte mobilisieren, um ein Gegengewicht zu schaffen, damit das Rad der Menschheit auf dem Wege der Humanität vorwärts läuft und nicht stillsteht oder gar nach rückwärts rollt.

 

Lilia: Ach, mein lieber Wini, du hast ja recht. Aber allein kannst du dieses Rad nicht in Schwung bringen.

 

Molar: Ja, wir müssten Gleichgesinnte finden, die von dem Ziel begeistert sind, Frieden, Eintracht, Freiheit und Brüderlichkeit unter den Menschen zu verbreiten. O liebes Lilalein, wenn wir erst einmal mehr Geld verdienen, dann wollen wir eine Monatsschrift herausgeben, die Gleichgesinnte anruft und sie verbinden soll in dem Bestreben, die durch den Krieg und seine Nachwirren verlorengegangenen seelischen Werte den Mitmenschen wieder zu vermitteln. Lilalein, du wirst die Redaktion dieser Zeitschrift übernehmen, die wir „Der Weltbürger“ nennen könnten.

 

Lilia: Guter Wini, deine Phantasie geht mal wieder mit dir durch. Deine Lebensaufgabe ist es, für die Familie zu sorgen. Alles andere, einschliesslich deiner Dichtung, ist von sekundärer Bedeutung. Jetzt in dieser Zeit menschheitsbeglückende Gedanken zu hegen, ist reiner Luxus, den wir, du und ich, uns nicht leisten können.

 

Molar: Es gibt innerliche Verpflichtungen, die ebenso wichtig sind wie die äusseren, wenn nicht sogar gewichtiger. Die Kunst des Lebens besteht darin, beide miteinander verbinden zu können.

 

Lilia: Das eine weiss ich: Wenn du mich nicht hättest, wären deine Kinder schon längst verhungert. Morgen werden wir also unsere Angestellten bezahlen. Zugleich werde ich ihnen sagen müssen, dass ich während meiner Abwesenheit die Werkstatt schliessen werde. Du, lieber Wini, wirst versuchen, alle restlichen Schuhe zu verkaufen und von dem Erlös allen Frauen den Lohn für das in diesem Monat Geleistete zu bezahlen. Auch muss Wolf Geld bekommen, um unseren Vorrat an Bast aufzustocken. Gehe morgen zum Schuldirektor und sprich mit ihm wegen der Freigabe von Wahrfried. Sage ihm, seine Grossmutter sei soeben gestorben und sein Grossvater bestehe darauf, noch eines seiner Enkelkinder zu sehen, bevor er selbst die Augen auf immer schliesse, was schon in den nächsten Wochen erfolgen könne. Das stimmt zwar nicht, aber diese Lüge schadet ja niemandem. dasseine Reiseerlaubnis für den Besuch der russischen Zone wohl zu lange dauern und eventuell abgelehnt werden würde, müssen wir heimlich über die Grenze gehen.

 

Molar: Aber was passiert, wenn ihr geschnappt werdet?

 

Lilia: Mir wird schon nichts passieren, denn schliesslich war ich doch Parteimitglied der KPD. Ich werde versuchen, die Möbel über die Grenze zu schaffen.

 

Molar: Wenn du dies erreicht hast, schicke mir sofort ein Telegramm, damit ich komme und dir helfe.

 

Lilia: Wini, du wirst doch in Hessen wegen Rauschgifthandels gesucht. Ich möchte auf keinen Fall, dass gerade du im Gefängnis landest. Ich schaffe es schon alleine, denn schliesslich hast du kein altes Weib, sondern eine Frau voller Tatendrang und Unternehmungslust geheiratet. Nein, bleibe du während meiner Abwesenheit hier am Bodensee. Verkaufe die Schuhe, aber mache keine Dummheiten mehr mit dem verdienten Geld. Schenke oder leihe bitte niemandem mehr etwas, ohne mich vorher gefragt zu haben. Du weisst, jetzt heisst es, vorsichtig mit dem Geld umzugehen, denn uns verbleibt nun keine „Notbremse“ mehr. Kümmere dich vor allem um deine Kinder. Du solltest auch Hermann in der Zwischenzeit das Rechnen beibringen. Er wird zu Ostern wahrscheinlich nicht versetzt werden können.

Molar: Was? Das habe ich ja gar nicht gewusst.

Lilia: Siehst du. Du kennst deine eigenen Kinder nicht. Für sie bist du ein fremder Papi, der immer verreist ist oder, wenn zu Hause, dann doch keine Zeit für sie hat. Du solltest ganz Familienvater sein. Dies ist deine vom Schicksal dir bestimmte Aufgabe. Dichten und Weltbeglückung sind nur Nebensachen. Wenn wir nochmals eine finanzielle Durststrecke durchschreiten sollten, dann musst du wieder deinem Beruf als Apotheker nachgehen. Ich habe mit Herrn Ristenau gesprochen. Er ist bereit, dich hier in seiner Apotheke einzustellen.