Die Wachhunde können uns hören

Wahrfried: Mami, wie weit ist es noch bis zur Grenze? Es ist schwer, in der Dunkelheit etwas zu erkennen.

 

Lilia: Es kann nicht mehr weit sein.

 

Wahrfried: Warum ist Papi nicht mit uns gekommen?

 

Lilia: Ach weisst du, wenn uns etwas passieren sollte, dann ist doch wenigstens er noch da, der sich um deine Geschwister kümmern kann.

 

Wahrfried: Was könnte uns denn passieren?

 

Lilia: Wir könnten bei der heimlichen Grenzüberquerung entdeckt und gefangengenommen werden.

 

Wahrfried: Aber wir dringen doch in kein fremdes Land ein? Wir gehen doch nur von der Westzone in die Ostzone, und beide gehören doch zu Deutschland?

 

Lilia: Die Ostzene gehört doch praktisch schon zur Sowjetunion. Eines Tages wird die UdSSR sie zu einer sowjetischen Republik erklären, und alle dort lebenden deutschen werden gezwungen werden, russisch zu sprechen.

 

Wahrfried: Aber was haben die Sowjets davon, sich einen Grossteil von Deutschland anzueignen?

 

Lilia: Macht!

 

Dieses Wort lässt dem Neunjährigen einen Schauder über den Rücken laufen. Was will man eigentlich mit dieser Macht anfangen? Wozu soll sie gut sein? Wie kann man sich an einer Macht erfreuen, wenn sie fremde Völker unterdrückt und in ihnen einen Hass gegen sich aufflammen lässt? Ja, Onkel Dörr hat mir erzählt, dass die Sowjets ihre Macht über Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien ausgebreitet haben und deren Völker unterdrücken. Aber die deutschen haben ja mit vielen europäischen Völkern das gleiche getan. Vielleicht ist es eine gerechte Strafe des Himmels, dass Deutschland jetzt die Macht anderer Staaten zu fühlen bekommen hat. Ist es das, was Christus meint mit dem Wort: Was du säest, das sollst du ernten? Oder meint er es in einem höheren Sinne? ... Liebe Mami, warum hast du gerade mich und nicht Hermann mitgenommen? Er ist doch grösser und stärker als ich und kann dir besser helfen.

 

Lilia: Du hast schon recht. Aber ich habe das Gefühl, dass dir nichts Schlimmes passieren kann, denn du bist, wie ich glaube, ein Glückskind. Und ausserdem habe ich dich von allen deinen Geschwistern am liebsten. Hast du mich wenigstens auch ein wenig lieb, auch wenn ich nicht wirklich deine Mutter bin?

 

Wahrfried: Ja, liebe Mami. Ich danke dir, dass du dem lieben Papi so tatkräftig zur Seite stehst. Ich weiss, er hat es schwer, für die ganze Familie sorgen zu müssen, aber ohne dich hätte er es noch viel schwerer. Du bist uns allen ein Segen.

 

Lilia: Wahrfried ist doch von allen Kindern Winis mein Liebling. Ohne sein Mitkommen hätte ich auch keinen Mut besessen, allein über die Grenze zu gehen, nur um Möbel zu holen. Ja, manchmal glaube ich, dass ich ihn noch mehr liebe als seinen Vater, der ja im Grunde gar nicht als irdischer Mensch begreifbar ist, sondern eher, wenn es so etwas gäbe, zwischen den Welten oder in einer höheren Welt beheimatet sein müsste. Aber während mein Mann für die meisten Menschen ein unbegreifliches Unikum bleiben muss, ist Wahrfried dagegen ein ganz begreiflicher Mensch. Ja, ich fühle, wie von ihm geradezu beglückende und trostspendende Strahlungen ausströmen. Ich habe ihn sehr lieb. Ich muss alles daransetzen, dass wenigstens er eine gute Ausbildung erfährt. Nein, ein einfacher Gärtner soll er nicht werden.

 

Wahrfried: Mami, wann haben wir die Grenze überschritten?

 

Lilia: Pst! Jetzt müssen wir noch leiser sprechen. Vielleicht befinden sich drüben sowjetische Soldaten, oder die Wachhunde könnten uns hören. Flüstere bitte nur noch.

 

Wahrfried flüsternd: Mami, sind wir schon an der Grenze?

 

Lilia: Ich glaube, dieser Bach müsste die Grenze sein. Hoffentlich ist er nicht so tief. Wir müssen wahrscheinlich unsere Schuhe, Strümpfe und Hosen ausziehen.

 

Es ist schon nach Mitternacht und es dringt matter Mondschein zu ihnen.

 

Lilia: Hoffentlich werden wir nicht entdeckt. Ja, dieser Bach muss die Grenze sein. Wie gut, dass ich noch im letzten Dorf eine Frau traf, die in der vorigen Nacht über die Grenze gekommen war. Sie konnte mir den Weg genau beschreiben. Auf der anderen Seite weiter hinten beginnt der grosse Wald. Darin müssen wir uns links vom Berg halten, bis wir auf einen breiteren Waldweg gelangen, dem wir zu folgen haben, bis wir an eine Abzweigung kommen, wo wir uns wieder links halten müssen, bis wir Treffurt erreicht haben. Von dort soll es einmal pro Tag einen Lastwagen nach Langensalza geben. Sie hat mich noch ausdrücklich gewarnt, keine Gepäckstücke in der Hand zu tragen, dassman sonst von den kontrollierenden Russen nach dem Ausweis gefragt wird. Sie versicherte mir auch, dass die letzte Woche bei der Flucht erst eine ganze Flüchtlingsfamilie gefangen und dann abgeführt worden sei, wobei eines der Kinder angeschossen gewesen sein sollte. Man erfährt ja so wenig, was wirklich passiert. Es heisst ja, dass einige der Gefangenen ausgesucht und zur „Ansiedlung“ nach Sibirien zwangsdeportiert würden. Aber mir dürfte nichts mehr passieren, war ich doch früher aktives Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands. Meine Mitgliedsnummer weiss ich noch, und mein Name stimmt auch noch, auch wenn ich mich um fünf Jahre verjüngen liess. Das war nach dem Kriege während des grossen Durcheinanders noch ziemlich leicht. Man brauchte nur bei der polizeilichen Anmeldebehörde zu beeidigen, dass man aus einem völlig zerbombten Ort im Osten Deutschlands komme, wo die Bürgermeisterei samt allen Urkunden verbrannt worden sei, dass man folgendermassen heisse und eben dort im Jahre soundso geboren sei, was die beiden hier mitgebrachten Zeugen bestätigen könnten, und schon konnte man in den nächsten Tagen einen neuen Personalausweis abholen. Meine Tochter wurde auf diese Weise auch wieder adlig. Welch ein Zufall für Wolf, alias Lorenz Sägerlein, das Soldbuch eines adligen Soldaten gefunden zu haben, um somit sich selbst, seine Frau und Tochter in den Adelsstand erheben zu dürfen. Mich hatte man als Zeugin vereidigt. Aber um die Familie Sägerlein zu schirmen, musste ich diesen Meineid leisten.

 

Wahrfried bleibt plötzlich stehen und lauscht: Mami, hörst du die Stimmen?

 

Lilia: Ja. Kauern wir uns hinter jene Büsche.

 

Wahrfried: Sind das die bösen Russen?

 

 

Lilia: Nein, ich höre Kinderstimmen darunter. Es handelt sich bestimmt um eine Familie, die sich auf der Flucht befindet. Sie sollten nicht so laut miteinander reden, sonst werden sie noch gestellt. Wir wollen uns hier ruhig verhalten, sonst jagen wir ihnen einen Schreck ein.

 

Wahrfried: Vielleicht sollten wir ihnen den Weg beschreiben, den sie zu nehmen haben?

 

Lilia: Sie gehen ja in die richtige Richtung. Sie müssen sich nur beeilen, noch vor Sonnenaufgang den Bach überschritten zu haben, denn bei Tageslicht könnten sie eher entdeckt werden.

 

Wahrfried: Warum flüchten eigentlich so viele Menschen aus der Ostzone?

 

Lilia: Sie fürchten für ihre Zukunft unter den Sowjets das Schlimmste.

 

Wahrfried: Und was ist dieses Schlimmste?

 

Lilia: dass sie keine persönlichen Freiheiten mehr besitzen, dass sie ihr Hab und Gut verlieren und ihre Verwandten im Westen nicht mehr besuchen können.

 

Wahrfried: Und was ist diese persönliche Freiheit?

 

Lilia: dass du deinen Wohnort und deinen Beruf frei wählen, deine religiöse und politische Überzeugung frei äussern darfst. In der russischen Zone darf man nicht frei sagen, was man denkt, sonst riskiert man eine Verhaftung. Komm, wir müssen weiter. Wir haben noch etwa drei bis vier Kilometer zu gehen.