Komödie auf der Freilichtbühne

Unser von der Geschäftsreise in den Norden nach dem Bodensee zurückkehrender Dichter hat die letzte Nacht in Überlingen verbracht und befindet sich jetzt auf dem Schaufelraddampfschiff “Hegau”, das ihn nach knapp anderthalb Stunden Fahrzeit in Meersburg absetzen wird. Ob sie mir schon auf meinen Brief hin geantwortet hat? Vielleicht wird sie mir nicht schreiben wollen. Das wäre das Ende meiner Dichterliebe. Ach, wenn sie nichts mehr von sich hören liesse, dann werde ich mich in Gottes Namen dem Schicksal fügen müssen und nach Madagaskar reisen. Lilia wird sich bestimmt bei meiner Rückkehr freuen, bringe ich doch über tausend Mark mit nach Hause. Das war harte Arbeit. Ich bin bis nach Kiel gekommen, wo meine alte Marineoffiziersschule beheimatet war. Überall ausgebombte Gemäuer. Aber eigenartig, dass in München, Frankfurt, Köln, Hamburg und auch anderswo immer die Kirchen und vor allem deren Türme verschont geblieben sind, während ringsumher oft nicht einmal eine Mauer über der anderen stehenblieb. Was hat das wohl zu bedeuten? War das alles Zufall? Manchmal glaube ich, dass wir Menschen alle auf vorgeebneten Bahnen gehen und die Bäume zu beiden Seiten uns mit höherer Bedeutung anstarren. Ja, in Vorfreude auf einen Brief meines geliebten Musenmädchens fühlten sich meine Energien beim Verkauf der “Festlichen Gaben” in den Zügen gesteigert. Den finanziellen Erfolg habe ich nur dieser meiner schwarzhaarigen Pallas Athene zu verdanken.

 

Und das Geschwinge der Schmetterlinge in seiner Bauchtrommel verstärkt sich. Er denkt an jene Faschingswunderherrlichkeit zurück. Und in süssem Heimweh nach der “fernen Geliebten” nähert sich unser Herzschlagerhöhter auf dem wasserschaufelnden Dampfer seinem schlossbetürmten Ziel.


Und als der flügelgekitzelte Heimkehrer spornstreichs in das gleich dem Anleger gegenüber befindliche Postamt stürmt, erhält er, der “Herr Doktor”, auf seine Frage hin verneinenden Bescheid. “Bitte, lieber Herr Stegmann”, so spricht er daraufhin den schalterwaltenden Beamten an, “übergeben Sie keinem anderen meiner Familie irgendwelche aus München an mich gerichteten Briefe!” “Ach so, ich verstehe Sie schon”,  versetzt der augenzwinkernde, bis zur Pensionierung dem Staat dienstverschriebene Postmann, “Sie können sich auf mich verlassen, verehrter Herr Doktor! “ Der ist doch dauernd auf Reisen und hat darüber hinaus noch eine Geliebte in München. Der hat es gut. Ich armes Schwein aber sitze hier tagtäglich hinter dem Schalter und verdiene briefmarkenaufklebend meine Brötchen. Ja, Dichter müsste man sein.


Als unser seit Wochen nun Stockloser wieder mit aufgeheiterter Miene - denn der Gedanke tröstete ihn, dass er wohl doch noch in den nächsten Tagen den erhofften Brief in Empfang nehmen könne - durch das Sommertal den Baracken zuschreitet, spielt sich auf dem Holperweg eine ähnliche Begrüssungszeremonie ab, wie wir sie schon vor etwa fünf bis sechs Wochen miterleben konnten, weshalb wir aus raumersparenden Gründen einen kleinen Zeitsprung vorzunehmen beabsichtigen und den Siegesgewissen und Strahlend-Zuversichtlichen erst dann wieder schriftlich fixieren wollen, wenn er den “verehrten Damen” in der Werkstatt sein “Ach-wie-schön-dass-Sie-noch-alle-da-sind!” ausgerichtet (wohlgemerkt, er übersieht die Lücken!) und allen herzlichst die Hand geschüttelt hat.

 

Lilia hat sich sogleich bei seiner von Helga verkündeten Ankunft (“Onkel Papi kommt!”) in ihr Schlafgemach zurückgezogen, wo sie sich in flinker Geschäftigkeit die für die folgende Aufführung benötigten Requisiten zusammensucht, bevor der Vorhang für den Beginn ihrer Komödie geöffnet werden kann. Und als sich schliesslich ihr Gatte, sie laut schon von der Küche her “Lilalein!” rufend, nach ihr umsieht und sie schliesslich hinter dem als Vorhang dienenden Teppich über das Elternehebett gebeugt findet, wo sie in Eile ihre Siebensachen in den Koffer zu stopfen bemüht ist, hat bereits die Vorstellung begonnen. Wir haben in unserer geistigen Loge Platz genommen und harren der Dinge.


Molar: Lilalein! Guten Tag! Lass dich umarmen!

 

Lilia: Rühr mich nicht an! Wo bist du so lange geblieben?

 

Molar: Ich komme mit viel Geld zurück. Ich bin jetzt ein erfolgreicher Dichter.

 

Lilia: Wo hast du dich herumgetrieben? Gib es zu! Du hast eine Geliebte besucht!

 

Molar: Aber Lilaleinchen! Ich war in München, um meine Gedichte drucken zu lassen. Danach bin ich auf Verkaufsreise nach Hamburg gefahren. Ich konnte doch nicht wieder ohne Geld zurückkommen. Ich habe diesmal über tausend Mark dabei.

 

Lilia: Und in München hast du eine Geliebte! Ich weiss es! Streite es nur nicht ab! Ich werde dich jetzt ein für allemal verlassen!

 

Molar: Bitte Lilalein, sei doch vernünftig!

 

Lilia: Wer ist wohl der Vernünftigere von uns beiden? Du oder ich? Ich war lange dumm genug gewesen. Ich schufte hier mit meinen Händen, um deine Kinder über Wasser zu halten, und du fährst zu anderen Weibsbildern und vergnügst dich in deren Betten. Pfui! Schämen sollst du dich!

 

Molar: Ich habe während meiner ganzen Abwesenheit mit niemandem geschlafen. Ganz gewiss nicht!

 

Lilia: Hans Winfried! Du lügst! Du hast deine Frau betrogen. Ich habe es die ganze Zeit gefühlt. Ich habe einen sechsten Sinn für solche Dinge. So! Jetzt gehe ich! Lass mich vorbei!

 

Molar: Glaube mir doch, Lilaleinchen. Allein der Dichtung wegen war ich unterwegs.

Wie unrechterweise er recht gesprochen hat, wird ihm in seiner jetzigen Zeitlichkeit wohl nicht bewusst werden.

Aber die doppelgoldzähnige Ehefrau lässt sich von seinen Unschuldsversicherungen nicht umstimmen. Die Rolle der Schmollenden, Verschmähten, Übergangenen scheint ihr auf den Leib geschrieben zu sein. Sie nimmt nun den geschlossenen Koffer in die Hand, bahnt sich ihren Weg durch den Vorhang (Szenenwechsel!) und findet bald die Aussentüre, während unser tragischer Hauptdarsteller, dessen sanftes Ameisengekrabbel sich zu einem Hornissengeschwaderansturm “bäuchlings” verwandelt hat, ihr bittend, ja flehend folgt, um sie von ihrem Exodus zurückzuhalten. Und die hellhörigen Damen schauen - von Frau Katzenbach abgesehen, die auf ihrem Hocker sitzen geblieben ist - zum Fenster hinaus, um dem Schauspiel aus dem Parterre zuzusehen.

 

Der Gemüsesamen setzende Wolf hört erst, doch dann sieht er auch die Szene auf der Freilichtbühne des Sommertales und denkt sich seinen Teil dabei: Lilia ist doch ganz wie ihre Tochter. Drohungen, Kofferpacken, Komödie. Ich an Hans Winfrieds Stelle hätte sie mal richtig durchgewalkt (verhauen). Ja, auch Monika musste ich manchmal verdreschen. Das hat immer geholfen. Bis zum Schluss.

 

Die Kinder kommen heute schon eine dreiviertel Stunde früher aus der Schule. Die Molarrangen, gerade den Waldpfad herabkommend, sehen ihr Elternpaar aus der Baracke stürmen und halten sich sogleich spähend hinter dem sie verdeckenden Gebüsch zurück, um das Spektakel vom Stehplatz aus mitverfolgen zu können.

 

Molar versucht der rothaarigen Abtrünnigen den Koffer aus der Hand zu nehmen.

 

Lilia: Fass mich nicht an! Ich verlass dich jetzt für immer. Wenn deine Kinder verhungern, ist es allein deine Schuld. Du bist es nicht wert, eine sich aufopfernde Ehefrau zu besitzen. Du betrügst dein Weib, wo du nur kannst. Pfui! Schäm dich!

 

Molar: Lilalein! Höre doch! Ich brauche dich doch!

 

Lilia: Jemand, der seine Frau nicht liebt, braucht sie auch nicht!

 

Molar: Lilalein! Ich liebe dich doch!

 

Lilia: Wer seine Frau liebt, lässt sie nicht wochenlang warten.

 

Molar: Verzeih mir bitte! Ich musste doch der Gedichte wegen nach München.

 

Lilia: Dazu braucht man nicht fünf Wochen. Ich hole die Möbel, setze mein Leben für dich und die Kinder ein und tu alles dir zuliebe. Und du lässt mich sitzen. Du bist nur wegen des Faschings nach München gefahren. Ich kenne dich doch. Gib es doch zu, dass du dort in irgendwelchen Phantasiekostümen durchtanzte Nächte gefeiert hast.

 

Molar: Ich war nur auf einem einzigen Künstlerfest. Man hatte mir eine Karte geschenkt.

 

Lilia: Bestimmt hat dich irgendsoeine Nixe mit langen blonden Haaren eingeladen. Nein, Hans Winfried, jetzt ist Schluss! Ich gehe! Lass meine Koffer los! Ich habe genug von dir und deiner Untreue. Jetzt müssen deine Kinder wieder betteln gehen.

 

Molar: Aber so höre doch, liebste Lilia!

 

Unser Gepeinigter kniet vor ihr nieder und hält sie mit beiden Händen am Rock fest.

 

Molar: Ich flehe dich an! Verlass mich und die Kinder bitte nicht! Wir brauchen dich. Wir lieben dich. Du bist unser aller Segen. Du bist die wunderbarste Ehefrau und fürsorgendste Mutter. Du darfst uns nicht verlassen. Komm wieder mit mir zurück. Ich werde auch ohne deine Einwilligung dich nie wieder verlassen.

 

Lilia: Nie wieder? Schwörst du das?

 

Molar: Ja, ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.

 

Lilia: Und schwörst du auch, dass du keinem anderen Weibsbild mehr nachläufst?

 

Molar: Ja, ich füge mich in mein Schicksal. Wie herrlich doch, Souffleur zu sein!

 

Lilia: Nun gut! Ich gebe dir noch eine allerletzte Chance. Verspielst du die, dann kannst du dir eine neue Frau für dich und deine vier Kinder suchen gehen. Aber ich garantiere dir, du wirst vergeblich eine Frau suchen, die wie ich so dumm sein wird, auf einen solch unausgeglichenen Handel einzugehen.

 

Und unser siegreicher Überredungskünstler ergreift den Koffer der nach dem Beifall des unsichtbaren Publikums Ausschau haltenden und triumphierenden Komödiantin und führt diese, begleitet von seinen weiteren Worten der Treueversicherung und der grossartigen Madagaskarprojekte, in die Wohnung zurück, wo sie ihm einen schon von ihr geöffneten Brief übergibt, dessen Schweizer Briefmarke, seinen Sender verratend, unseren leid- und notgeprüften Dichtermann das soeben Inszenierte sogleich vergessen lässt.
 

Sehr geehrter Herr Doktor Bröckelberger!

 

Ich habe für Sie und Ihre ehrenwerte Familie den Antrag für die beabsichtigte Auswanderung bei der französischen Militärregierung eingereicht. Jedoch wurde mir dort zu verstehen gegeben, dass Sie erst noch eine schriftliche Bescheinigung über den Nachweis, dass Sie keine “braune” Vergangenheit haben, nachzureichen hätten. Ich bitte Sie höflichst, diese Angelegenheit sofort zu erledigen und nur die behördliche Bestätigung zuzuschicken. Voraussichtlich werde ich noch vor Ostern angelegentlich einer Durchreise bei Ihnen in Meersburg vorbeikommen können, dass ich wichtige Dinge mit Ihnen zu besprechen beabsichtige. Richten Sie auch bitte meine Empfehlung an Ihre gnädige Frau aus.

 

Mit hochachtungsvollem Gruss

 

Paul Stämpfli


Molar: Was sagst du dazu? Ist das nicht alles wunderbar? Wir fahren nach Madagaskar!

 

Lilia: Ich komme aber nur mit, wenn du mir auch bis zu unserer Abfahrt treu geblieben bist.

 

Molar: Darüber bereite dir bitte keine Sorgen mehr.

 

Lilia: Und noch etwas. Du besuchst auch nicht mehr deine Schwester und sprichst auch nicht mit ihr oder ihren Kindern.

 

Molar: Wieso? Was ist vorgefallen?

 

Lilia: Sie hat deine Frau angespuckt und eine Hurenmutter genannt. Entweder du hältst zu mir, oder ich packe meinen Koffer erst gar nicht aus.