Ich will keine Hure werden

Als die amerikanischen Soldaten in den ersten beiden Aprilwochen 1945 in Thüringen einzogen, dasssah man überall weisse Fahnen - meist Bettlaken - an Besenstielen oder Fahnenmasten von den Häusern flattern, und die Bevölkerung stand vor den Häusern und weinte zumeist. Die einen weinten aus Freude, dass der  b ö s e Krieg nun zu Ende war oder dass nun auch der Naziterror dank der Befreier aufgehört hatte, andere, und es waren die wenigsten, vergossen Tränen, weil nun “leider” der grossdeutsche Traum ausgeträumt war angesichts des grossen Erwachens, und viele weinten, weil andere weinten, oder gar aus Scham vor dem der Welt angerichteten Unheil. Was wird nun werden? Wird man sich rächen?

 

Aber, welch Wundert Die Rache der Männer aus dem Lande Abraham Lincolns blieb aus. In Bäringen wurde nur ein Mädchen “belästigt”, was in Anbetracht des Durchzuges vieler Tausender Infantristen und ihrer gelegentlichen Einquartierung in Privathäusern sowie der Stationierung einer Einheit in sieben Zelten und im Schulgebäude ein unerhörtes Beispiel von Truppendisziplinierung darstellte. Und dassihnen das Gebot “NO FRATERNIZATION!” (“keine Verbrüderung!”) auferlegt war, wendeten sie es in den ersten Tagen auch auf Erwachsene an, durchbrachen es aber desto eifriger bei Kindern, die sie mit Kaugummi, Apfelsinen und Süssigkeiten beschenkten. Der Feind hatte sich zu einem Freund entpuppt, auch wenn er noch die Maske des offiziellen Strafvollstreckers aufgesetzt lassen musste, indem alle deutschen Soldaten und Offiziere zu Gefangenen gemacht und in eiligst errichtete Kriegsgefangenenlager transportiert wurden. Dieses zweideutige Verhalten leistete natürlich dem Gerücht Vorschub, dass die westlichen Alliierten noch mit der deutschen Reichsregierung in Verhandlung stünden, um gegen den gemeinsamen Menschenfeind aus dem Osten vorzugehen. Somit wartete man auf das erhoffte “Auf-zum-Endkampf!”-Signal. Man hoffte, man wartete, doch es kam nicht. Die westlichen Alliierten schienen sich an dem Konferenztisch in Potsdam mit Stalin einigen zu wollen. Und eines Tages im Sommer verliessen die Amerikaner auch das Bauerndorf Bäringen, ohne der Bevölkerung einen Grund für ihren plötzlichen Aufbruch mitgeteilt zu haben. Es war ein Tag der Stille. Kein Soldat zu sehen, kein Panzergeratter zu hören. Totenstille. Und das grosse Rätselraten begann wieder unter der Bevölkerung. Ist das die Ruhe vor dem Sturm? Hatte etwa der Herr Dr. Bröckelberger doch recht, als er den Abzug der Amerikaner und die Übergabe Thüringens und Sachsens an die Russen voraussagte? Was wird nun geschehen? Man hatte Angst. Die Gerüchte von den Russengreueln in Ostpreussen und Schlesien waren auch in diese Dorfidylle gedrungen. Es war eine unerträgliche Stille. Man schaute sich gegenseitig an, so, als wollte man in der Miene des anderen eine Antwort suchen, aber man sagte kein Wort. Die Lippen schienen wie verklebt zu sein. In jener Nacht hatte kaum einer schlafen können, denn bei jedem Geräusch fuhr man auf. Sind sie schon da? Jeden Augenblick können sie an die Türe klopfen.

 

Aber erst am nächsten Morgen ratterten die ersten graugrünen Panzer mit den roten Sternen durch das Dorf. Und ihnen folgten Hunderte und Aberhunderte von sowjetischen Armeewagen aller Art. Diesmal stand niemand vor den Haustüren, die “verriegelt und verrammelt” waren. Und ausser den begeistert die Panzer und Lastwagen zählenden Kindern gab es keine Zuschauer, wenn die Erwachsenen auch ab und zu durch die gardinenverhangenen Fenster schauten, entmutigt und überwältigt angesichts der gar kein Ende nehmen wollenden Kette der mit Getöse vorbeifahrenden Militärkolonnen. Und dann näherten sich, von den Feldern herkommend, die mit Gewehren bewaffneten Fusstruppen wie bei einem Sturmangriff. Sie drangen in die Häuser ein, entwendeten vor allem Uhren und Schmuck und vergewaltigten einige Frauen und Mädchen, die sich nicht gut genug versteckt hielten. Obstbäume wurden auf Feldern und in Gärten in einem Meter Höhe mit der Axt gefällt. Scheunen gingen oftmals in Flammen auf, und Hilfeschreie und Schüsse drangen an die Ohren der sich in ihren Häusern verbarrikadiert haltenden Nachbarsleute. Es waren die Stunden des grossen Zitterns. Und jene sollten so schnell kein Ende nehmen.

 

Warum stellst du die Amerikaner wie einen Verein von Heiligen dar, während die russischen Soldaten wie Mördertruppen geschildert werden?

 

Nun, ich freue mich über deine Fragen. Amerika hat ja keine deutsche Besatzung erlebt. Es weiss nur vom Hörensagen, was SS-Kommandos sind. Wenn die amerikanische Bevölkerung auch nur ein Zehntel dessen erlitten hätte, was die bedauernswerte sowjetische Bevölkerung während des Krieges miterlebte, dann wären die deutschen von ihnen sicherlich nicht so glimpflich behandelt worden. Die Ausschreitungen der sowjetischen Soldaten sind in gewisser Weise die Folge oder die Gegenkraft von dem, was die deutschen in der Sowjetunion angerichtet haben. Das heisst nicht, dass ich irgend jemanden entschuldigen möchte, ist doch jeder Akt von Lieblosigkeit verwerflich und vor allem beklagenswert für den, der ihn begangen hat. Denn jeder wird für das, was er gesündigt hat - und jeglicher Verstoss gegen das Gesetz der Nächstenliebe ist Sünde! -, selbst aufzukommen haben, und sollte es ihn auch Hunderttausende von Tränen kosten und Tausende von Jahren währen. Aber von dem, was diese geballte Gegenkraft an Schrecklichem in Ostpreussen, und Schlesien anrichtete, hat Thüringen kaum noch etwas zu spüren bekommen, denn jene Gewaltakte der Rache versiegten allmählich. Und nur noch vereinzelt loderten die Feuer der Leidenschaft auf, in deren Flammen jedoch noch viele Menschen verbrannten.


Drei Tage nach der “Übergabe” Bäringens an die sowjetischen Besatzungstruppen sehen wir Heidrun am Bette ihrer plötzlich erkrankten Mutter in Gerdas Sterbezimmer sitzen, dass sie und ihre Eltern nach dem Auszug ihres Bruders und seiner Kinder in das Apothekerhaus zurückgezogen waren.

 

Mutter: Du und Vater habt doch auch hoffentlich das Silberbesteck tief genug im Garten vergraben?

 

Heidrun: Ja, Mutter. Tief genug. Sie hat Fieber. Ich darf ihr nicht soviel von dem erzählen, was jetzt alles geschieht, sonst macht sie sich noch mehr Sorgen. Sie darf nur das Unumgänglich-Notwendigste wissen. Wir können jeden Augenblick abgeholt werden. Jetzt wollen auf einmal mehrere Bäringer “früher” Kommunisten gewesen sein, die “nur aus Sicherheitsgründen” ihre Mitgliedskarte zu Beginn des Dritten Reiches verbrannt hatten. Und sie versuchen ihre Mitgliedschaft dadurch zu beweisen, dass sie nun alle NSDAP-Mitglieder denunzieren. Es sollen schon über dreissig Personen verhaftet worden sein. Sicherlich pochen sie auch bald an unsere Türe. Was wird nur aus meinen Kindern werden, wenn ich abgeholt werden sollte? Wird man Mutter und Vater auch abholen? Beide sind ja schon so alt. Und Mutter ist zudem noch krank.

 

Mutter: Habt ihr auch die Türen alle gut verriegelt?

 

Heidrun: Ja, Mutter. Wir haben ja in den letzten zwei Tagen grosses Glück gehabt, dass keine Russen zu uns gekommen sind. Welchem Zufall haben wir es zu verdanken, dass vor unserem Haus ein russischer Offizierswagen parkt wegen Motorschadens. dassdenken die anderen wohl, dass bei uns schon ein “Hohes Tier” eingezogen sei, dem sie nicht in die Quere zu kommen beabsichtigen.

 

Mutter: Hat es dassunten nicht an der Tür geklopft?

 

Heidrun: Um Gottes willen! Ja, sie kommen! Ich muss zu meinen Kindern!

 

Mutter: Komme aber sofort wieder, hörst du!

 

Heidrun: Ja, Mutter! Ich höre schon Schritte auf der Treppe. Ich höre Stimmen. Das ist Vater und ... Dr. Hackmann. Er ist es, der klopfte, Mutter.

 

Dr. Hackmann: Guten Tag, Frau Bröckelberger! Guten Tag, Frau Heitmann! Nun, wie geht es unserer Kranken?

 

Heidrun: Sie hatte heute morgen noch 39,2 Grad.

 

Dr. Hackmann: Na also! Das Fieber fällt schon wieder. Ich glaube, wir haben das Schlimmste hinter uns.

 

Mutter: Was treibt der Iwan (die Russen) im Dorf?

 

Dr. Hackmann: Ich darf ihr nicht die Wahrheit sagen. Ich glaube, dass die bald mit ihren Verhaftungen aufhören. Gleich werden sie wohl auch zur Apotheke kommen, denn sie sind schon bei Baumgärtners in der Nebenstrasse gewesen. Ich werde hier bleiben und versuchen, die Bröckelbergers vor der Verhaftung zu retten.

 

Vater: Aber liebe Else! Ich sehe, du hast noch das Bild des Führers in der Schublade!

 

Mutter: Das geht dich gar nichts an!

 

Vater: Wenn die Russen das hier finden, sind wir alle geliefert. Du musst es sofort verbrennen.

 

Mutter: Auf keinen Fall! Mein Führer hat es mir doch noch selbst signiert.

 

Dr. Hackmann: Frau Bröckelberger! Ich schätze Ihre Verehrung für den Führer. Aber in Anbetracht der jetzigen Umstände...

 

Heidrun: Ja, Mutter! Du musst es verbrennen und zwar sofort.

 

Mutter: Muss es denn sein?

 

Vater: Ja.

 

Mutter: Könnten wir es denn nicht auch noch vergraben oder gut verstecken?

 

Heidrun: Nein!

 

Mutter: Sind wir nicht alle Verräter am Führer, wem wir jetzt sein Bild verbrennen sollten?

 

Dr. Hackmann: Der Führer würde uns verzeihen.

 

Mutter: Nun gut. Nehmen Sie es, Doktor.

 

Dr. Hackmann: Ich werde es sofort anzünden.

 

Vater: Hier sind Streichhölzer,

 

Mutter: Ach, das ist zuviel für mich. Ich muss mit eigenen Augen ansehen, wie man das Bild meines Führers verbrennt.

 

Heidrun: Weine doch bitte nicht. Der Führer hat bei seinem Heldentod bestimmt auch nicht geweint.

 

Vater: Habt ihr gehört? Unten hat es laut geklopft!

 

Stimme von unten: Aufmachen! ... Aufmachen!!

 

Heidrun: Das sind sie! Um Gottes willen! Ich muss zu meinen Kindern!

 

Vater: Sage Elfriede Bescheid! Sie soll sich sogleich verstecken!

 

Dr. Hackmann: Nun, Herr Apotheker, ich glaube, Sie gehen sofort hinunter und öffnen die Türe, bevor diese aufgebrochen wird. Ich bleibe bei Ihrer Frau.


Und als der alte Bröckelberger die Tür öffnet, stehen vor ihm ein russischer Unteroffizier mit zwei olivgrünuniformierten Soldaten und einem der ortsansässigen Abelssöhne.

 

Offizier: Wo Frau?

 

Abel: Führen Sie uns zur ehemaligen Ortsgruppenfrauenschaftsleiterin!

 

Bröckelberger: Meine Frau liegt mit hohem Fieber im Bett.

 

Offizier: Macht nix!

 

Abel: Nun, zögern Sie nicht! Schnell!

 

Und die drei polterklicknagelbeschuhten Russen samt dem gummibesohlten Abel folgen dem pantoffeltragenden Apotheker die Treppe hinauf in das Schlafzimmer.


Offizier: Du sein Hitler-Frau? Aufstehen! Anziehen! Mitkommen!

 

Abel: Los, beeilen Sie sich! Sonst könnten wir ungeduldig werden und gleich noch mehrere Leute mitnehmen.

 

Frau Bröckelberger: Ihr Pack! Schert euch raus! Unverschämtheit, mit Waffen in das Schlafzimmer einer Frau zu treten! Hinaus!

 

Dr. Hackmann: Verzeihen Sie ihr, Herr Offizier. Ich bin der Arzt Dr. Hackmann...

 

Offizier: Du auch auf Liste. Du mitkommen!

 

Dr. Hackmann: Frau Bröckelberger ist sterbenskrank. Sie hat Tuberkulose. Es ist sehr gefährlich. Fassen Sie die Dame nicht an. Sie könnten sich anstecken und sterben.

 

Offizier: Was? Frau haben Tuberkoloss?

 

Dr. Hackmann: Ja! Alle hier im Haus könnten die Krankheit schon haben oder diese weitergeben. Hoffentlich fällt er auf meine Notlüge herein. Wenn Sie Frau Bröckelberger mitnehmen, dann können viele Menschen krank werden. Sie hat hohes Fieber. Fühlen Sie selbst!

 

Offizier: Nein! Ich nix fühlen wollen! Ich keine Tuberkoloss wollen.

Und seinen zwei Soldaten gibt er den Befehl, das Haus zu durchsuchen.


Wenig später zerren die beiden Rotarmisten Heidrun und die zeternde Elfriede auf den Korridor, wo neben dem Offizier der Neukommunist Abel, der Doktor und der Apotheker stehen.

 

Dr. Hackmann: Auch die Tochter steht unter Tuberkuloseverdacht. Ebenso das Hausmädchen.

 

Offizier: Mädchen gutt! Nix Tuberkoloss! Mein Major hat mir heute morgen noch gesagt, er könne jetzt ein schönes “knuspriges” Mädchen für seine Küche gebrauchen. Er wolle sich mir gegenüber gegebenenfalls auch dankbar zeigen. Ob er mir vielleicht zu einer baldigen Beförderung verhilft? Die Pauswangige wurde ich ja wohl selbst gerne ausziehen. Aber mir brennt es jetzt schon seit Tagen zwischen den Beinen. Doch dieser Arzt wird mir helfen müssen.

 

Und auf das Mädchen weisend, sagt er zu Elfriede: “Du mitkommen! Du kochen!”

 

Und er weist seine Soldaten an, die Angsterfüllte nach draussen zu führen Doch Elfriede beginnt laut zu schreien: “Nein! Lasst mich los! Helfen Sie mir doch um Himmels willen! Ich will keine Hure werden!”

 

Und die zwei Heidruntöchter, welche diese Schreie bis in ihr Kinderzimmer gehört haben, fangen plötzlich laut zu heulen an und rufen: “Elfriede! Elfriede!”

 

Dr. Hackmann: Das Mädchen kann auch Tuberkulose haben.

 

Offizier: Mädchen gutt! Nix krank! Du haben Penicillin?

 

Dr. Hackmann: Was will er wohl mit Penicillin? Ich habe noch zwei Ampullen. Ja.

 

Offizier: Du mir geben! Jetzt! Hier!

 

Und der Arzt führt ihn in ein Nebenzimmer und verabreicht dem Geschlechtskranken zwei Spritzen in das Gesäss. Als beide Männer wieder auf den Korridor heraustreten, sagt der Offizier zu Doktor Hackmann: “Du gutt! Du nix mitkommen!”

 

Abel: Die Bröckelbergers und Sie haben ja heute ein Schweineglück gehabt. Aber wir kommen wieder! Verlassen Sie sich darauf!