Hurra, Papi kommt!

Als sich Frau Loderer und Irmgard auf dem Wege zur Werkstatt befinden, entdecken sie in einiger Entfernung den sich niedergedrückt dem Barackental Nähernden. „Hurra! Papi kommt!’’, so ruft die Kleine und will ihrem Vater entgegenrennen. Ihre Pflegemutter hält sie zurück und weist sie an, schnell in die Werkstatt zu laufen, um dort die Ankunft des Erwarteten zu verkünden. Somit öffnet die Blondbezopfte die Barackentüre und ruft, die Pendeltüre etwas aufschiebend, in die Werkstatt hinein: „Hurra, Papi kommt!“ Sofort heben sich die Köpfe der arbeitenden Frauen. Sie sehen sich fragend an, ob wohl auch die anderen dasselbe vernommen, und in den sich im Nu aufhellenden Gesichtern verbreitet sich sichtbar freudige Überraschung, ja, sogar Lachen, und Erika und Rosa rufen wie in einem Atem: „Hurra! Herr Doktor ist da!“ Alle Frauen erheben sich sogleich, und die beiden Ausruferinnen, aus der Baracke stürzend, entschliessen sich, der kleinen Irmgard, die ihnen schon um einige Längen voraus ist, nachzueilen und den Ankömmling zu begrüssen. Jener noch in seinen alten, nun offenstehenden Mantel gehüllte, hutlose Grossfüssige, die Aktentasche mit seinen Gedichten unter dem rechten Arm tragend, öffnet nun beide Arme und hebt seine Jüngste hoch an seine Wange, die diese mit Küssen bedeckt und sodann bemerkt: „Papi, du hast dich ja noch gar nicht rasiert!“ Auch Rosa und Erika geben ihm ein Küsschen auf die Wange, und erstere sagt: „Wir sind froh, dass du endlich gekommen bist, Hans Winfried. Wir haben alle ungeduldig auf dich gewartet. Ich eile schnell zurück, um Heidrun von deiner Rückkehr zu benachrichtigen. Sie wird sehr froh sein, die Arme. Übrigens mein herzliches Beileid!“ „Ja, liebe Rosa“, so entgegnet der sich unbehaglich fühlende und doch von dem Empfang gerührte Vordichter, „ich danke dir. Ich mache mir Sorgen um meine Schwester. Wie hat sie die Todesnachricht aufgenommen?“ „Sie hat oft weinen müssen und wohl deshalb bei Lilia nicht mehr gearbeitet.“ „Ja, bitte gehe zu ihr und sage, dass ich heute nachmittag noch zu ihr kommen werde.“

 

Und der Ankommende entdeckt vor seiner hölzernen Behausung zwischen Frau Loderer und der auf ihren Stock gestützten Frau Katzenbach seine Ehefrau, die aus seiner etwas zaghafteren und ungemuteren Gangart eine gewisse Unbehaglichkeit erkennen kann und darum etwas Verhängnisvolles, das über sie alle hereinbrechen wird, erahnt. Sie bietet ihrem Mann, ohne vorher einen Willkommensgruss geäussert zu haben, die Lippen und beobachtet dann, wie er Frau Loderer und der schrumpeligen Kartenleserin - die sich nicht enthalten kann, ein „Seht-ihr!-Ich-habe-recht-gehabt!“ auszurufen - die Hände schüttelt. Und während jener seiner Frau durch die Küche in ihr gemeinsames Wohnzimmer folgt, verfügen sich die Frauen halb lachend, halb Unheil ahnend, an ihre Arbeit zurück und lassen ihren sich widersprechenden Gedanken freien Lauf: Ja, heute kaufe ich mir den Stoff für mein Ballkleid. - Ich fürchte, er hat nichts verkauft. Dies kann doch auch wiederum nicht sein, denn er kommt ohne Bastschuhe zurück. - Er sah so ganz niedergeschlagen aus. Ja, der Tod seiner Mutter muss ihn sehr mitgenommen haben. - Bestimmt hat er alle Schuhe verkauft. Er ist doch unser Bester!

 

„Sprich, Hans Winfried“, so beginnt Lilia das Gespräch unter vier Augen, „wie viele Schuhe hast du verkauft?“ „Ach, Lilalein, ich wünschte, ich wäre auf einem anderen Stern.“

 

Lilia: Wie? Soll das etwa heissen, dass du nichts verkauft hast?

 

Molar: Ich habe bis auf einen Sack mit zweiundvierzig Paaren alle anderen Schuhe abgesetzt.

 

Lilia: Und wo befindet sich dieser Sack?

 

Molar: Ich habe ihn unten im Fährhaus zur Bewahrung aufgegeben.

 

Lilia: Mit anderen Worten, du hast etwa hundertsechzig Paar Schuhe verkauft. Wieviel Geld hast du dafür bekommen?

 

Molar: Lilalein, sag, liebst du mich?

 

Lilia: Ja, ich liebe dich.

 

Molar: Auch dann noch, wenn ich dir etwas Schlimmes offenbaren muss?

 

Lilia: Was ist es? Sage es mir zuerst.

 

Molar: Sage mir zuerst, dass du mich trotzdem noch lieben wirst.

 

Lilia: Ja, ich werde dich trotzdem lieben.

 

Molar: Alles, was ich von dem Erlös der Schuhe an Geld zurückbringe, sind ein paar Pfennige.

 

Lilia: Wini, bitte, mach keine Scherze!

 

Molar: Nein, mir ist nicht nach Scherzen zumute.

 

Lilia: Was sagst du? Du kommst ohne eine einzige Mark nach Hause? Wo befindet sich denn das Geld? Hast du es etwa verloren? Ist es dir gestohlen worden? Sag doch!

 

Aber der Gepeinigte schüttelt nur traurig den Kopf. Dann, auf ihr Drängen hin, berichtet er ihr in Kürze, dass er sowohl dem Verleger und dem Drucker eine Anzahlung gegeben als auch einem Freund Geld geliehen habe. Lilia gerät bei seiner Offenbarung in immer grösser werdende innere Bewegung, die sie bald nicht mehr einzudämmen weiss. Erst befeuchten sich ihre Augen, dann stösst sie hervor: „Das kann doch nicht wahr sein!“ Schliesslich scheinen alle Dämme ihrer Zurückhaltung gebrochen zu sein, und eine Sturzflut von Drohungen und Beschimpfungen macht sich unter Tränen Platz: „Du bist ein Rindvieh, ein Hornochse! Wie kannst du auch einem Freund, den du seit zwanzig oder mehr Jahren nicht mehr gesehen hast, so viel Geld leihen, Geld, das dir im Grunde gar nicht gehört? Aber was noch viel schlimmer wiegt, ist die Tatsache, dass du, nur um deine Gedichte gedruckt zu sehen, die eigene Familie verhungern lässt. Du bist ein Rabenvater. Denkst du vielleicht, ich rackere mich für deine Kinder ab und versuche sie am Leben zu erhalten, während du das mühsam Erarbeitete zum Fenster hinauswirfst? Nein, mein Lieber, dasshast du dich geirrt! Das mache ich nicht mehr mit. Wir sind geschiedene Leute. Ich packe jetzt meinen Koffer und gehe!“

Und sie steigt auf einen herbeigeschleppten Schemel und hebt den staubigen Koffer vom Schrank herunter. „Liebes Lilaleinchen“, so jammert der Angefeindete, „bitte, verlasse mich nicht. Ich liebe dich, das weisst du doch!’’

 

Lilia: Du mich l i e b e n ?! Du stellst ja deine Gedichte über mich und sogar noch über deine Kinder. Hast du dich denn wirklich mal mit deinen Sprösslingen befasst? Nein! Du überlässt alles mir. Die Schwere dieses Familienlebens habe nur ich alleine zu tragen, dass du dich in der Welt herumtreibst, Verse machst und meiner Arbeit Geld an Leute verschenkst, während wir hier nichts zu essen haben. Hast du nie daran gedacht, dass auch meine Angestellten von deinem Verkaufserlös abhängig sind? Wie kannst du es also wagen, mein und ihr Geld einem vielleicht dich auch noch betrügenden Verleger zu übergeben? Du bist ein Dummkopf! Ich werde dich verlassen.

 

Mit diesen Worten schliesst sie ihren mit der notwendigsten Wäsche nun vollbepackten Koffer und schickt sich zum Gehen an. Der gedemütigte und reuige Schuldbewusste kniet sich zu Boden und umschliesst mit seinen Armen ihre Beine: „Liebes Lilaleinchen, bitte, verlasse mich nicht! Ich weiss, dass ich vom Pech verfolgt wurde. Aber es wird alles wieder gut werden. Ich handelte doch nur zu unser aller Wohl, als ich das Geld dem Verleger und dem Drucker gab. Die Gedichte kann ich, sobald sie gedruckt sind, verkaufen und viel mehr Geld damit verdienen als mit den Bastschuhen. Glaube mir! Ich werde sie in den Zügen und auf den Bahnhöfen an die Menschen herantragen, und diese werden gerne dafür bezahlen. Wir werden in einigen Monaten unser eigenes Mietshaus bewohnen können. Ich verspreche es dir. Ich werde als Dichter Erfolg haben und meine ganze Familie ein sorgloses Leben führen lassen können. Lilalein, wir werden im nächsten Jahr eine Reise zusammen nach Griechenland unternehmen können, wovon wir schon oft gesprochen haben.

 

Lilia: Aber das hilft alles nichts. Wir haben jetzt kein Geld. Ausserdem wollte ich noch diese Woche in die russische Besatzungszone fahren, um endlich unsere Möbel zu holen. Ohne Geld kann ich auch keine Transportkosten bezahlen. Ich brauche hierzu allein schon mindestens tausend Mark. Was denkst du, wie sich meine Frauen nebenan bei deiner Ankündigung, ihnen kein Geld ausbezahlen zu können, aufführen werden? Nein, mein Lieber! Du machst mir das Leben zu schwer. Wir müssen die Werkstatt wieder schliessen. Ach, du kindlich dummer Tor!

 

Bei diesen Worten setzt sie sich auf den Schemel und weint erneut. Der Leidvermittler und Schmerzensbringer nimmt ihren Kopf zwischen seine Hände und sagt tröstend und zugleich mit Entschluss: „Ich werde morgen früh nach Konstanz fahren und meinen Zauberstock mitnehmen. Er wird uns den Sesamberg öffnen müssen. Dann können wir die Damen ausbezahlen!“
 

Die fünf „Damen“ nebenan, zu denen sich Rosa wieder gesellt hat, hörten durch die dünne Trennwand das Schluchzen und Schimpfen und ahnten Beängstigendes. Nach einer geraumen Weile des ungeduldigen Harrens in Ungewissheit sehen sie den breitschultrig Schuldbeladenen zu ihnen in die Werkstatt eintreten und hören ihn sagen: „Meine lieben Damen! Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass ich Ihr Geld noch nicht bei mir habe, dass ich aber hoffe, es Ihnen morgen abend auszahlen zu können. Entschuldigen Sie mich bitte. Es ist etwas Unvorhergesehenes dazwischengekommen. Bitte, verstehen Sie, und haben Sie noch ein wenig länger Geduld.“

 

Und Frau Katzenbach entgegnet: „Lieber Herr Doktor, was immer Sie zu tun beabsichtigen, es zielt nur auf das Gute hin. Wir werden auch noch ein oder zwei Tage warten können.“