Es ist wie bei einem Empfang auf dem Bahnhof

„0 Fortuna“, so dröhnt in Dörrs Kopf der Chorgesang eines Orphischen. Ja, er jubiliert: Ich hätte heute den Stadtvikar umarmen können, als er mir mitteilte, dass die bischöfliche Instanz in Konstanz mein Auferstehungslied zur Aufführung in der Stadtkirche freigegeben hat. Hätten die gewusst, dass ich gar kein Katholik bin, dann wäre es nie zu dieser Bewilligung gekommen. Komisch, dass mich bisher niemand nach meiner Glaubenszugehörigkeit gefragt hat, weder der Pfarrer noch der Vikar. Als ich voriges Jahr für den erkrankten Lehrer einsprang und die Orgel während der Messe spielte, dassdachten alle wie selbstverständlich, dass ich, der Blinde, einer der ihren sein müsse. Ja, wenn ich der Stadtpfarrer wäre, dann wüsste ich, was ich der Gemeinde von der Kanzel zu predigen hätte. Doch jetzt bin ich froh, dass ich ihr ein wenig durch meine Kantate zu Ostern künden darf.

 

Es klopft an seiner Tür. „Ja, herein! ... ach, du bist es, Wahrfried! Schön, dass du dassbist. Komm, setz dich neben mich aufs Bett.“ Der Blinde bewohnt nur einen kleinen Raum, der an den die breite Baracke der Länge nach durchmessenden Korridor grenzt. Ausser Tisch, Stuhl, Bett, Schrank, einem kleinen Herd nebst Anrichte für sein Küchengeschirr und die Esswaren sowie hellblauen Vorhängen an dem zum Garten hinausführenden Fenster befindet sich nichts in diesem Raum. Ein kärgliches Zuhause. Jedoch hat sein jetziger Inhaber Schlimmeres erlebt. Dörr liebt sogar sein dürftiges Zimmer, in welchem er sich so geborgen fühlt, denn er weiss, dass es seine Bestimmung ist, hier unter den Flüchtlingen zu weilen, um ihnen mit Rat und auch Tat zur Seite zu stehen.

 

Dörr: Ich muss dir erzählen, dass ich heute Bescheid erhalten habe, mein Auferstehungslied zu Ostern in der Stadtkirche zu Gehör bringen zu dürfen.

 

Wahrfried: Was ist eine Auferstehung?

 

Dörr: Weisst du, wenn wir sterben, dann sind wir nicht tot. Wir leben weiter. Nur unser Körper stirbt.

 

Wahrfried: Du sagst, wir leben weiter. Was lebt denn von uns weiter? Ist der Körper denn nicht unser Ich?

 

Dörr: Nun, ich will dir ein wenig mehr erzählen. Du musst wissen, dass wir aus drei „Dingen“ bestehen. Einmal gibt es den Körper aus Knochen und Fleisch, den du sehen und anfassen kannst. Zum anderen besitzen wir in uns einen unsichtbaren Körper, der Astralkörper genannt wird. Dieser ist in seinem Aussehen dem sichtbaren Körper ähnlich, jedoch ohne Gebrechen. Und schliesslich haben wir als drittes eine Geistseele, die unsterblich ist. Wenn wir also, wie man so sagt, sterben, dann trennt sich der unsichtbare Körper vom sichtbaren Körper und geht in eine für uns Hiesige noch nicht erkennbare Welt hinüber und nimmt die in ihm wohnende Geistseele mit sich. Nach einer unbestimmten Anzahl von Jahren kehren dann beide wieder in einen neuen, andersgearteten irdischen Körper zurück.

 

Nun, dies stimmt nicht ganz, dass der Astralleib ja eine gespiegelte Emanation des irdischen Körpers - oder vielmehr umgekehrt - ist, der ja in diesem Fall erst noch werden wird. Also wird der alte Astralleib vor der Seelen-Rückkehr in einen neuen Erdenkörper aufgelöst. Wir wollen aber die Ausführungen unseres Weisenden - oder wollen wir ihn ruhig einen Weisen nennen - nicht dauernd unterbrechen, auch wenn das von ihm Dargelegte seine „natürlichen“ Grenzen hat, denn spricht er nicht letzten Endes zu einem, dessen Bewusstsein wie eine Rosenknospe noch in seiner eigenen Umfriedung schlummert und sich gerade im Traume entschlossen hat, mit dem nächsten Sonnenschein seine Blütenblätter langsam auszubreiten? Vielleicht wird ihn einst das Strahlende anders grüssen, als es dem weisenden Weisen zum Gruss erscheinen wird. Denn ist nicht die Vorstellung zugleich die uns strahlende Sonne, die den zu bestellenden Tag beleuchtet? Warum sollte es sich nicht mit der vorgestellten Vorstellung ebenso verhalten?

 

Dörr: Nanu, wie ist mir? Es kommt mir so vor, als ob mein Gedankengang blockiert sei. Ich rede doch hoffentlich keinen Unsinn? ... Also, ich hoffe, du kannst mir folgen, lieber Wahrfried. Die Seele und der Astralleib ziehen wiederum in einen neuen Erdenkörper ein. Dies wiederholt sich so lange, bis das Licht der Seele so hell strahlt, dass es nicht mehr des irdischen Körpers und des unsichtbaren Leibes bedarf. Dann sind wir geläuterte Seelen geworden und wohnen wieder bei Gott und sind ganz Seele oder, besser gesagt, „reiner Geist“.

 

Wahrfried: Das klingt so wunderbar, dass man es gar nicht fassen kann.

 

Dörr: Wie kann ich es ihm nur erklären? Auto und Fahrer. Ja, diese Gegenüberstellung scheint mir angebracht zu sein. Lass mich dir ein Beispiel zum besseren Verständnis geben. Man könnte sagen, dass der Astralleib samt der in ihm wohnenden Geistseele unser eigentliches Ich ist und als solcher gleichsam eine wirkliche Person darstellt. Bei der Geburt auf der Erde steigt dieses Ich, aus Geistseele samt Astralleib bestehend, in einen Erdenkörper gleichsam wie in ein Auto hinein, um sich in der irdischen Welt fortbewegen zu können. Wir sitzen jetzt also in dem menschlichen Körper wie in einem Auto, das mit unserem wahrhaften Ich nichts zu tun hat. Er ist uns nur zur Fortbewegung auf der Erde zuerteilt worden. Aus diesem Auto, sprich Körper, heraus können wir wohl durch die Scheiben nach draussen sehen, aber kein anderer kann zu uns hineinsehen. Das Fensterglas hat eben die Beschaffenheit, dass man nur von innen nach aussen blicken kann. Verstehst du? Nun, wenn wir in unserem Auto herumfahren, entdecken wir auch andere Autos, jedoch können wir nicht durch deren Scheiben hineinschauen, um zu sehen, wer dort drin sitzt. dass wir also keine Person in einer sichtbaren Gestalt am Steuer sitzen sehen, denken wir vielmehr, dass jene anderen Autos denkende Wesen sein müssen, dass sie doch halten, wieder weiterfahren und irgendwo einbiegen können. Wir erheben also das Auto selbst zu einer Persönlichkeit, zu einem denkenden Lebewesen. Und dass die anderen Fahrer uns ebenso nur als Autos, nicht aber als Fahrer erblicken, glauben wie jene auch schliesslich wir, dass wir nur ein denkendes Auto seien, und vergessen, dass wir doch einen darin unabhängigen Körper besitzen, der, so der Wagen nur zur Ruhe kommt, jederzeit aussteigen kann, bis er sich am nächsten Morgen wieder in diesen hineinsetzt, um fortfahrend zu seinen Bestimmungsorten gelangen zu können. So sehr haben wir uns von dem Schein, wir seien ein Auto, trügen lassen, dass wir beim „Tode“ eines Fahrzeuges glauben, der „andere“ sei nun gestorben, dass„er“ sich ja nicht mehr bewegen kann. Und wir selbst haben Angst vor dem Zeitpunkt, wo unser Wagen, sei es aus Altersschwäche oder durch einen Unfall, nicht mehr in der Lage sein wird, sich weiterzubewegen. Wenn wir doch nur erkennen könnten, dass wir nicht das Auto, sondern eine weiterlebende Person sind, dann gäbe es auch keine Angst mehr vor dem Tode.

 

Wahrfried:Wie fühlen wir uns aber, wenn wir gerade gestorben sind?

 

Dörr: Während wir für die Zurückgebliebenen tot zu sein scheinen, sind wir selbst erstaunt darüber, noch zu leben. Und wenn wir eines plötzlichen und unverhofften Todes sterben, denken wir, dass alles noch so wie vorher sein müsse. Wir mögen dann auf einmal unsern toten Körper vor uns liegen sehen und einen Schrecken bekommen. Wir sind demzufolge vollkommen verwirrt und finden zu diesen Dingen keine Erklärungen, weil uns ja niemand in unserem Erdenleben auf unsere Auferstehung vorbereitet hat. Ist es Teil unseres Schicksals, erst einmal erschrocken und verwirrt zu sein und herumirren zu müssen, so benötigen wir eine längere Zeit, um uns zurechtzufinden, bevor sich Geister unserer annehmen und uns nach Hause führen.

 

Wahrfried: Warum nach Hause?

 

Dörr: Wir gehen dann dorthin zurück, woher wir gekommen sind, bevor wir als Mensch in dieses jetzige Leben geboren wurden.

 

Wahrfried: Müssen alle Menschen nach dem Sterben erst einmal herumirren?

 

Dörr: Nein, bei weitem nicht. Dies sind nur Ausnahmen. Denn meistens ist es so, dass beim Austritt des für uns unsichtbaren Astralleibes aus dem Erdenkörper einige, manchmal auch eine ganze Reihe von Geistern bereitstehen, um uns in Empfang zu nehmen. Unter diesen befinden sich zumeist „Verstorbene“ aus unserem Familien- und Bekanntenkreis.

 

Wahrfried: Warum finden sich diese Unsichtbaren bei der Umwandlung eines Menschen ein?

 

Dörr: Sie sind gekommen, weil sie sich darauf freuen, den endlich Heimgekehrten begrüssen und ihn, falls er ein guter Mensch gewesen ist, beglückwünschen zu dürfen. Es ist dann wie bei einem Empfang auf dem Bahnhof, nachdem der Ankömmling aus dem Zug gestiegen ist. Sie umarmen und küssen uns und haben wohl auch Tränen der Freude in ihren Augen. Denn oftmals haben sie dich im Leben als Geist besucht und begleitet, haben vielleicht gesehen, wie sehr du gelitten hast, dich aber immer trotzdem bemühtest, gut zu sein, und sind jetzt froh darüber, dass du „es“ geschafft hast. Zum anderen hat die Anwesenheit der schon ins Geisterreich hinübergewechselten Verwandten und Bekannten des soeben Verschiedenen den Sinn, ihn zu überzeugen, dass er sich nun bei den „Totgeglaubten“ befindet, also selbst als Irdischer „gestorben“ ist, und dass dieser Tod eigentlich nur eine neue Geburt in ein erneutes Leben war, die ihn zugleich von allen weltlichen Sorgen und körperlichen Leiden entbunden hat.

 

Wahrfried: Wird bei meinem Tod auch meine Mutti anwesend sein?

 

Dörr: Das kann schon sehr wohl sein, es sei denn, ihre Seele befände sich zu nämlicher Zeit wieder in einem anderen Erdenkörper.

 

Wahrfried: Ja, über die Geister hattest du mir schon erzählt. Aber über das Sterben noch nie. Warum?

 

Dörr: Ein Mahl muss auch erst vorbereitet werden, bevor es auf den Tisch gestellt wird. Ja, wir können fast sagen, dass unser ganzes Leben eine Vorbereitung unseres eigenen „Gerichtes“ ist, das wir später auszulöffeln haben werden.