Der verdroschene Baum

Es ist der 3. Mai 1947. Torsten von Luckwald geht durch die in einem Münchner Vorort gesuchte Strasse, an deren beiden Seiten sich von Gärten umgebene Villen aneinanderreihen. In der Hand hält er einen Zettel, auf dem die Anschrift seiner Frau geschrieben steht. Ob die Adresse auch stimmt? Ist mir doch zufällig heute früh einer unserer ebenfalls ausgebombten früheren Nachbarn begegnet, der zufällig durch eine andere Nachbarsfrau die Adresse meiner Susanne kannte. Was für Augen wird sie machen, wenn sie mich sieht? Bin ich noch attraktiv genug, ich mit meinem Hinkebein, den drei Streifschüssen an Rücken, Schulter und Hals? Auch habe ich noch einige Granatsplitter im Fleische sitzen, die man mir später noch herausholen kann. Ich sehe ja so heruntergekommen aus, so halbverhungert und ausgelaugt. Werde ich ihr noch ein guter Liebhaber so wie früher sein können? Wie wunderbar war es immer, von ihren weichen Armen gehalten und an ihren schönen und so wohltuend riechenden Leib gepresst zu sein. Nur nicht an so etwas jetzt denken, denn es pflegt ja immer anders zu kommen, als man es sich in seiner Vorstellung herbeiwünscht. Wie wird sie mich empfangen? Drei Wochen suche ich sie jetzt schon. Keiner wusste, wo sie steckte. Ihre Eltern sind beim Bombenangriff umgekommen, meine Eltern sind schon lange tot. Über zwei Jahre war ich bei den Tommys (Engländer) in Gefangenschaft. Die haben mich schön geschlaucht. Dabei bin ich selbst zum Schlauch geworden. Immerhin, es gab doch später wenigstens Zigaretten. Über zweieinhalb Jahre keine Nachricht mehr von meiner Frau und meinem Sohn. Wie wird mein Wilhelm jetzt wohl aussehen? Wie froh bin ich, dass all die Schreckenszeiten aufgehört haben, obwohl, weiss Gott, noch chaotische Zustände herrschen. Was für ein Schwein hatte ich, bis auf meine Fussgelenkverletzung und die anderen Kleinigkeiten unbeschadet aus diesem Völkermorden herausgekommen zu sein, wo wir doch in der Waffen-SS immer im dicksten Schlamassel steckten. Wo es brenzlig wurde, dassstellte man uns hin. Die meisten aus unseren Reihen sind gefallen. Hier, Nummer 27. Ja, das muss es sein. Ein schmiedeeisernes Tor. Keine Klingel? Kein Name? Ich bin so aufgeregt. Meine liebe Susanne! Was wird sie wohl für Augen machen? Alle meine Briefe der letzten zweieinhalb Jahre sind als „unzustellbar“ zurückgekommen. Hoffentlich bekommt sie keinen Schreck oder gar einen Herzschlag, wenn sie mich, ihren geliebten Torsten, wiedersieht. Wir waren so ein richtiges stürmisches Liebespaar, wie es im Buche steht. (In welchem? In seinem Buche, denn jeder schreibt sein eigenes Buch.) Am ersten Tag unseres Kennenlernens wussten wir, dass wir uns gefunden hatten.... Das Tor ist geöffnet. Gehe ich hindurch? Wie wird sie jetzt wohl aussehen? Dick wird sie ja nach all den Hungerjahren nicht geworden sein. Vielleicht wohnt sie hier als Zimmermädchen oder Köchin. Sie konnte ja so gut kochen. Ich freue mich schon auf ihre Leberknödelsuppe und das Pfeffergulasch. Dort steht ein Jeep in der Garage. Nun, dachte ich es mir doch. Sie arbeitet bei Amerikanern. Um so besser! Dann haben wir doch wenigstens was zu essen. Vielleicht wird sie in Dollars bezahlt? Dann können wir auf dem Schwarzmarkt alles Nötige kaufen. Vielleicht kann sie auch von den Amis Zigaretten für mich erstehen? Das sind ja tolle Aussichten, die ein Herz schneller zum Schlagen bringen. Nur jetzt nicht die Fassung verlieren. Ach, ich bin ja so aufgeregt.

 

Er klingelt an der Tür.

 

Ein Zimmermädchen öffnet.

 

Luckwald: Guten Tag! Kann ich wohl bitte Frau von Luckwald sprechen?

 

Zimmermädchen: dassmüssen Sie an einer falschen Adresse sein. Warten Sie, ich will mal eben die Madam fragen, denn ich bin erst letzte Woche hier eingestellt worden.

 

Sie ruft in den Flur hinein: „Misses Graves! Kennen Sie eine Frau von Luckwald?“

 

Frau Graves kommt zur Tür: Ja, das werd’ ich wohl sein... Torsten! Wo kommst du denn auf einmal her? Ich dachte, du seist tot.

 

Luckwald: Sie umarmt mich nicht. Macht ein überraschtes Gesicht. Sie ist so vornehm gekleidet. Was soll das alles?

 

Susanne: Was mach’ ich jetzt bloss mit ihm? Wie er nur aussieht! So ganz wie ein Fremder, ja, wie ein Landstreicher. Soll ich ihn hereinbitten? Ich muss wohl. Was wird Jim sagen? Wir haben uns doch im Januar erst verheiratet. Ja, Torsten, verzeih, wenn ich so sprachlos bin. Komm doch herein.

 

Sie geleitet ihn ins Wohnzimmer und bittet das Zimmermädchen, Kaffee zu bereiten und auch einige Brote zu schmieren. Torsten hat doch sicherlich Hunger.

 

Nun sitzen sich die beiden totgeglaubten Lebendigen auf einem Sofa gegenüber.

 

Susanne: Was soll ich jetzt nur sagen? Torsten, ich habe Lieselotte, meine Gehilfin, gebeten, dir einen kleinen Imbiss zu bereiten. Ja, was ich dir sagen muss... Ich bin seit Anfang dieses Jahres wieder verheiratet.

 

Luckwald: Was sagst du? Das ist doch unmöglich! Du bist doch meine Frau! Wir haben uns doch nicht scheiden lassen!

 

Susanne: Letztes Jahr habe ich zufällig den Adolf Mertens in der Stadt getroffen, eben jenen deiner Kriegskameraden, den du damals während deines letzten Kriegsurlaubes vor vier Jahren mit zu uns brachtest. Er war bei dem letzten Angriff auf Belgien dabei und will mit eigenen Augen gesehen haben, wie du in den Flammen eines explodierenden Benzinlagers umgekommen bist. Er hat mir darüber eine schriftliche Bestätigung mit Unterschrift gegeben und diese auch unter Vereidigung beim Standesamt nochmals getätigt.

 

Luckwald: Um Gottes willen! Wie konnte das alles passieren? Dieser verfluchte Krieg! Ja, es stimmt schon, dass das Benzinlager in Flammen aufging. Aber ich bin noch einmal auf eigenartige Weise unversehrt geblieben. Wo ist unser Wilhelm?

 

Susanne: Im Internat in Bad Tölz. In den Osterferien war er noch hier. Aber er hat sich mit Jim nicht verstanden. Es war sehr schmerzlich für mich. Jim zahlt ihm seine Internatskosten. Ich wollte ja, dass er im Hause bei uns bliebe, aber der Bursche war ja dagegen und sagte mir einmal: „Wie konntest du bloss einen ‘Nigger’ heiraten. Gibt es denn keine deutschen Männer, die dir gefallen könnten? Warum ausgerechnet einen ‘Nigger’?“ Ich musste weinen. Und Wilhelm hat das Haus verlassen. Wird er wiederkommen? „Ich habe doch kein Verbrechen begangen“, so habe ich ihm geantwortet. Und er entgegnete: „Mutter, du hast Rassenschande getrieben. Sei froh, dass der Führer nicht mehr lebt. Der hätte dich gleich gerechterweise vergast.“ Ja, unser Sohn ist jetzt trotz seiner sechzehn Jahre schon sehr gross. Er ist in vielem dir ähnlich geworden. Er will Ingenieur werden. Er ist so ganz allein auf der Welt, denn auch zu mir hat er kein richtiges Verhältnis mehr. Er wird sich freuen, dich wiedersehen zu können. Besuche ihn bald einmal und schreibe mir darüber.

 

Luckwald: Mein armer Sohn! Ich kann mir seinen Kummer lebhaft vorstellen.

 

Jim ruft von der Treppe herab: „Hon!“ (Abkürzung von honey = Liebling, Schatz). Susanne erhebt sich und geht zur Treppe hinaus.

 

Jim: Who are you talking to?

 

Susanne: Jim, can you come down, please. I want to introduce you to someone.

 

Jim: Just a second, Hon. I hope her visitor is not one of the beggars who come to our door every day. My wife likes to help every one of them.

 

Susanne, die jetzt wieder neben Torsten am anderen Ende des Sofas Platz genommen hat: Ich muss dir auch noch etwas sagen, damit du keinen Schreck bekommst. Mein Mann ist amerikanischer Offizier und...

 

Luckwald: Das ist doch bestimmt ganz vorteilhaft für dich.

 

Susanne: 0 ja, wirklich. Ich bin auch sehr glücklich mit ihm. Er ist ein wirklich guter Mensch. Wir wollen bald nach Amerika gehen. Aber ich höre ihn schon kommen. Jim, may I introduce you to my ex-husband!

 

Jim: Glad to meet you! Damn! I thought he was dead! Which hell did he escape from? Doesn’ hell want SS staff?

 

Doch Torsten ist unfähig, seine Hand in die dargereichte zu fügen: Ist das denn möglich? Meine Frau ist jetzt Gemahlin eines Baumwollnegers? Susanne, sag mal, spinnst du? Du kannst doch nicht mit einem Nigger ins Bett steigen und ihn dann sogar noch heiraten? Dich muss es doch vor seiner Haut ekeln. Der stinkt doch bestimmt. Du kannst unmöglich mit diesem Tier glücklich sein. (Er fasst sie bei der Hand.) Komm mit mir, verlasse diesen Bastard!

 

Jim: What did you call me? You as my wife told me have been an SS officer. You are a dirty, stinky, filthy rot and you dare to say to an American officer that he is a bastard? Get out of here or I’ll call the MP (Military Police). Out!!

 

Luckwald: Komm mit, Susanne! Ich brauche dich. Verlasse diesen Hottentotten.

 

Susanne: Torsten, siehst du denn nicht, dass ich schwanger bin? Ich bin eine Verpflichtung eingegangen und muss sie auch ausführen. Möchtest du Vater eines schwarzen Kindes sein?

 

Luckwald: Komm mit! Wir beginnen ein neues Leben. Das Baby lassen wir abtreiben. Hunderttausende von vergewaltigten deutschen Frauen haben in den letzten Jahren das gleiche gemacht. Komm mit mir! Der Nigger wird dich nur unglücklich machen.

 

Jim zieht seine Pistole: You German bastard! If you are not out of the door right away I’ll shoot you down! Out!!

 

Und bei diesem drohenden Ausruf und der auf ihn gerichteten Waffe zieht es Torsten vor, sich schleunigst durch den Flur, wo Lieselotte gerade mit einer Tasse Kaffee und belegten Broten auf einem Tablett aus der Küche getreten ist, nach der Haustür zurückzuziehen.

 

Susanne rufend: Torsten, Jim ist ein guter Mensch! Ich liebe ihn! Ich bleibe bei ihm! Kümmere du dich um Wilhelm!

Und sie steht noch an der Haustüre und sieht ihrem davonhinkenden Mann nach. Sie ruft ihm noch zu: „Auf Wiedersehn, Torsten! „ Aber jener dreht sich nicht mehr um.

 

Jetzt sitzt sie wieder auf dem Sofa. Tränen stehen ihr in den Augen. Sie versucht jene mit dem Taschentuch abzutupfen, aber es kommen ihr immer wieder neue Tränen. Mein lieber Torsten! Es ist wahr, wir haben uns sehr geliebt, aber auch zu oft gequält. Was haben wir im Krieg schon voneinander gehabt? Er war dauernd nicht da. Eine Frau ohne Mann. Das war furchtbar. Monatelang ohne Mann, und zuletzt waren es fast ganze drei Jahre. Was hab’ ich geweint um mich, um Torsten, um Wilhelm, um meine Eltern, um alles. Unser Haus wurde von Bomben zerstört, und meine Eltern fanden dabei den Tod.

 

 

Und Susanne schlingt ihre Arme um ihn und sagt: Jim, take me with you to America as quickly as possible. I hate Germany and all of my recent past. I suffocate here with every day.

 

Jim: Yes, my honey, we will soon leave here. But just tell me one thing: How can you, a good soul, have been married to an SS officer? Couldn’t you have known better?

 

Währenddessen ist Torsten in einem noch vom letzten Regenguss feuchten Wald eingetreten. Alles ist still ringsum, doch in ihm tobt es: Ich hätte diesen Bastard umbringen sollen! Wagt mich, einen Arier, Bastard zu nennen! Unverschämtheit! Meine Frau ist jetzt eine Negerhure und gebiert einen schwarzen Teufel. Vor was Hitler warnte, das ist jetzt eingetroffen. Europa wird vernegert. Die arische Rasse wird verbastardisiert. Und dieser wilde Affe nennt mich einen Bastard. Dieses Schwein! Ich könnte ihn umbringen!

 

Und er nimmt einen Ast und schlägt diesen mit Macht gegen einen Baum und ruft bei jedem Schlag ein Losungswort seiner Wut: „Du Bastard! Du Schwein! Du Rassenschänder! Du Zuhälter! Du schwarzer Teufel! Du ...!“ Und als seine Arme zu zittern und seine Hände zu brennen anfangen, lässt er den Prügel fallen und lehnt sich mit vorgehaltenem Arm gegen den verdroschenen Baum. Tränen fliessen, Tränen, von denen er glaubte, dass sie in den vertrockneten Tränensäcken seiner Seele nicht mehr vorhanden wären. Doch seine Seele wird noch viele Kübel Tränen seinen Tränensäcken zur Verfügung stellen müssen, auch wenn die soeben geweinten Zähren die letzten in diesem jetzigen Leben gewesen sein sollten.