Der Goldmedaillen-gewinner

Unser unter seiner Last schwitzender und heimgesuchter Vordichter kommt zu einer Tankstelle: dasssteht doch ein vollbeladener Lastwagen mit einer Lindauer Registriernummer. dasswill ich doch sofort den Fahrer fragen, ob er mich umsonst mitnimmt. 0 Glück, stehe mir bei! Ich sollte den Sack erst hier, ein wenig versteckt, absetzen.

 

So nähert er sich dem Mann, der die Hinterreifenventile kontrolliert: „Entschuldigen Sie bitte, sind Sie zufällig der Fahrer dieses Lastwagens?“ Auf dessen barsches „Jawohl“ fährt Molar in seiner Rede fort: „Guten Tag! Mein Name ist Doktor Bröckelberger. Ich muss dringend zum Bodensee, habe aber kein Geld für eine Eisenbahnkarte.“

 

Fahrer: Bei mir müssen Sie ebenfalls bezahlen. Das Geld bewegt die Welt. Wer nichts hat, kann auch nicht weiterkommen. Acht Mark kostet die Mitfahrt.

 

Molar: Ich kann Ihnen als Bezahlung ein wunderbares Paar Bastschuhe im Werte von zwanzig Mark anbieten.

 

Fahrer: Leichte Latschen kann ich beim Autofahren nicht gebrauchen.

 

Molar: Aber vielleicht für Ihre Frau Gemahlin.

 

Fahrer: Die haut sie mir womöglich noch um die Ohren. Nein, nein. Sie bezahlen, oder Sie bleiben hier.

 

Molar: Ich bin stellungsloser Dichter und habe sechs Kinder. Darf ich Ihnen vielleicht eines meiner Gedichte mit eigenhändiger Zueignung schenken?

 

Fahrer: Was? Sie wollen mich mit schönen Worten bezahlen? dasshört aber alles auf! Dichten Sie aus Ihrem Kopf acht Mark hervor. Das allein interessiert mich.

 

Molar: Ich befinde mich in einer ausserordentlichen Notlage. Sehen Sie hier. Ich erhielt heute erst das Telegramm. Ich muss dringend zum Bodensee, um noch rechtzeitig bei der Beerdigung dabei zu sein. Ich verfüge noch nicht einmal über das Geld, um auf das Grab meiner Mutter einen Blumenkranz niederlegen zu können.

 

Fahrer: Also los, steigen Sie auf! Und passen Sie während der Fahrt hinten auf, dass keines der Hühner davonfliegt. Ich bringe sie gerade von einer Landwirtschaftsausstellung zurück. Zwei von ihnen haben sogar Preise gewonnen.

 

Unser Hühnerbewacher sitzt ganz am Ende der Ladefläche des Lastwagens, und es ruckelt und bumst recht ordentlich gemäss der Vielzahl an Unebenheiten der erst nur wieder notdürftig reparierten Landstrassen. Und als das Preishühnergefährt Landsberg passiert, haften Molars Augen noch an der historischen Festung, in welcher der „Führer“ einst inhaftiert war und „Mein Kampf“ schrieb. Er muss unwillkürlich zurückdenken an die Zeit, als  s e i n  Bild in nahezu jedem Laden oder Wohnzimmer an der Wand hing. Wie konnte es geschehen, dass er, der damals von etwa neunzig Prozent aller deutschen verehrt, wenn nicht gar geliebt wurde, nun von über neunzig Prozent aller Nachkriegsdeutschen geschmäht, wenn nicht gar gehasst wird? Bestand etwa seine sogenannte „Vorsehung“ darin, das ob seiner Leistungen in Kunst und Wissenschaft hochmütig gewordene deutsche Volk zu demütigen, es ins kloakenhafte Chaos zurückzustossen, damit es sich daraus mittels eines nochmals von Anfang an zu durchgehenden Läuterungsprozesses zu einer moralischen Neuorientierung hinaufarbeite? War Hitler vielleicht ein Funktionär höherer Ordnung, die es für notwendig ersah, den Menschen durch eine Rückwerfung in Leid und Not zu einer dem Chaos entspringenden, seelischen Katharsis (Läuterung) zu bringen, dass er bisher so kläglich darin versagt hatte, seine Seele zum Licht zu führen? Waren nicht die Grosse Pest in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts und der Dreissigjährige Krieg im siebzehnten Jahrhundert ebensolche den Tod konfrontierende Rückwerfungen wie die unsrige im zwanzigsten Jahrhundert? Warum sind diese so notwendig? Wer kann es wissen? Alles, was ich weiss, ist, dass ich erbärmlich friere. Es ist furchtbar windig auf diesem offenen Gefährt. Mein Hut ist mir schon weggeflogen. Hätte ich den Fahrer deswegen angehalten, dann wäre er vielleicht mürrisch geworden und hätte eventuell auf meine Weiterfahrt verzichtet. Mein gefütterter neuer Mantel würde mir jetzt vortrefflich zustatten kommen. Hoffentlich hängt er jetzt nicht in einem Gefängnisschrank, wo er ungenutzt bleibt. Ich wünsche, Torsten ist noch auf freiem Fuss und kann ihn gut gebrauchen, hat er mich doch, weiss Gott, viel Geld gekostet.

 

Plötzlich gibt es einen Ruck, denn der Fahrer musste vor einem breiteren Loch plötzlich, doch mehr oder weniger vergeblich, bremsen, und unser gedankendurchbrauster receptor inspirationis fällt mit seinem breitschultrigen Körper auf eine der vielen Holzkisten, in der es jetzt aufgeregt gackert. Ihrem Insassen, einem hühnenhaften rot- und braungestreiften Hahn, gelingt es, sich aus der nun zertrümmerten Enge „ungeschoren“ zu befreien und diesen Schritt in die Freiheit auch noch mit einem Siegesfanal zu bekräftigen, wobei er sich auch im weiteren nicht gewillt zeigt, dem sich langsam wieder aufrichtenden, dichtenden Bastschuhverkäufer die Chance einzuräumen, ihn in seiner anfänglichen Verwirrung beim Schopf zu packen. „Fahrer! Anhalten! Anhalten! Der Hahn ist frei!“, so ruft unser zeternder Mitfahrer. Der Angerufene, den Notschrei vernehmend, dreht sich dem Rückfenster zu, sieht den über Kisten sich tastend bewegenden und nach dem buntgefiederten Ausreisser sich streckenden Halbglatzköpfigen, bringt daraufhin sein rollendes Ungetüm ganz zum Stehen und erblickt beim Aussteigen, wie der Hahn über die Seitenplanke hinweg mit erschrecktem Gegacker flügelschwingenderweise in den Strassengraben gleitet und, daraus hervortippelnd, sich in Eile in das nächstgelegene Feld schlägt. „Das ist der Preishahn, der die Goldmedaille gewonnen hat! Ihm nach! Den dürfen wir auf keinen Fall verlieren!’’

 

Und den Winddurchwehten durchfährt erst jetzt die ganze Bitterkeit seines ungeschlachten Hinfalls auf jene Gackerstiege: Um Gottes willen! Hätte ich gewusst, dass dies der Preishahn ist, so hätte ich mich vielleicht doch noch mehr beim Fallen vorgesehen. Ja, schnell hinunter! Ihm nach!

 

Und wenn der mit seinem Motor noch knurrende und schwitzende Lastwagen Augen hätte wie wir, dann könnte er jetzt miterleben, wie Fahrer und Mitfahrer mit ihren schnell von klebrig-klobigem Dreck verschmierten Schuhen über das Feld durch das nächste Gebüsch dem Wald zueilen, wobei sie durch ihr Schnaufen, Schimpfen und Rufen den um sein Leben - und nicht um seine Goldmedaille - bangenden Flüchtling zur grössten Panik stimulieren, dessen Kräfte sich durch die vermeintliche Lebensbedrohung verzehnfacht zu haben scheinen, denn er rennt, halb schwebend, den Tannen zu, als könnten diese ihn vor den Verfolgern bewahren, ohne sich in seinem Geeil freilich deren wahrhafter Intention bewusst zu werden, die doch nur darin besteht, ihn seinem Eigentümer am Bodensee unversehrt zurückzubringen, damit dieser ihn mit zärtlicher Hand streichele und dabei „danke“ sage für sein so grossartig gelegtes, goldenes Ei. Sind die Menschen nicht alle potentielle Preisträger und glauben doch irrigerweise, es gehe um ihr Leben? Aber solche Gedankenblitze zucken nicht durch schweisstropfende Stirnen.

 

Der Hinterherspurtende schreit: „Wir müssen ihn unbedingt einfangen!“, der andere entgegnet keuchend: „Jawohl, wir werden ihn bald fassen!“ Molar fällt. Der Mäntel wird dabei ganz verschmutzt. Und dass es ihm ohnedies nun recht warm geworden ist, zieht er ihn aus, und es durchfährt ihn schlagartig: Jawohl, der Mantel! Mit diesem vor sich ausgebreitet gehaltenen, abgetragenen Wetterbeschützer wirft er sich auf das von einer Hecke in seinem Fluchtversuch gehemmte Schnabeltier, das vor dem schwer auf ihn fallenden grossen Schatten zu Fall kommt und sich von einer es durch die Dunkelheit ziehenden Hand an den Beinen gepackt und in die Höhe gehoben sieht, womöglich den letzten Todesstreich erwartend. Statt dessen stösst unter Keuchen Herr Rüdiger, der Fahrer, hervor: „Bravo, Herr Doktor! Das haben Sie ausgezeichnet gemacht. Ich hatte schon geglaubt, ich würde meine Anstellung als Fahrer verlieren, wenn wir dieses Krähvieh verloren hätten. Dieser Goldträger soll wahrscheinlich noch mehrere Ausstellungen besuchen und Preise verbuchen. Herr Doktor, ich bin Ihnen so zu Dank verpflichtet. Im nächsten Wirtshaus will ich Sie gerne zum Essen einladen.“

 

So sitzen also eine halbe Stunde später der Bezwinger eines Goldmedaillengewinners und dessen Transporteur an einem Wirtshaustisch und löffeln und gabeln und schneiden und kauen und trinken und schwatzen. „Verzeihen Sie, Herr Doktor, dass ich heute bei unserer ersten Begegnung so unwirsch war. Jeden Tag nahen sich mir einige Leute und fragen mich, ob sie kostenlos mitgenommen werden könnten. Jeder gibt vor, keine Arbeit zu haben, mehrere Kinder zu Haus versorgen zu müssen, kein Geld in der Tasche zu tragen und was man sich sonst noch so alles ausdenken kann. Aber noch nie ist es vorgekommen, dass mir einer ein Telegramm mit Todesnachricht gezeigt hat. Eine glänzende Idee! Verwenden Sie diesen Trick öfter?“

 

Molar: Nein, Herr Rüdiger, es ist ein echtes Telegramm, und über Geld verfüge ich wirklich nicht, so dass ich die Wahrheit sprach, als ich Ihnen sagte, dass ich augenblicklich keinen Kranz kaufen könne, um ihn als letzten Gruss auf das Grab meiner Mutter zu legen. Doch ihre wohl heute oder morgen stattfindende Beerdigung wird in Thüringen vorgenommen, wohin zu eilen Geld und Umstände mir sowieso versagen.

 

Herr Rüdiger: Darf ich Ihnen diesen Fünfmarkschein geben, damit Sie Ihrer Frau Mutter nachträglich noch einen Kranz zukommen lassen können?

 

Und als Herr Rüdiger den kleinsten Raum des Gasthofes aufzusuchen genötigt ist, greift Molar zu einem Schreibstift (es ist nicht der mit der „vergoldeten“ Feder) und schreibt auf ein vom Wirt erbetenes Blatt Papier ein vierstrophiges Gedicht mit dem Titel „Der Fernfahrer’’, von welchem wir mangels höherer Eingebung nur die ersten vier Zeilen an dieser Stelle wiederzugeben beabsichtigen, natürlich mit deiner ersuchten Erlaubnis, werter Leser.

 

Fährst du auch weit ins Land,
Weiten dir nur bekannt,
Will ich mich dir vertrau’n
Im Erdenraum.

 

Darunter schreibt er daumennagelgross: Dem lieben Fernfahrer Rüdiger anlässlich der Goldmedaillenfahrt von München nach Lindau - Ihr Molar.

 

Manchmal beflügelst du die Sprache in erstaunenswerter Weise. Warum nur hin und wieder?

 

Wie gut, dass du aufmerksam bist. Denn was kann dem mit Bewusstsein - wenn auch nicht immer mit voller Bewusstheit - schaffenden Dichter Besseres zu wünschen sein, als dass sein Leser zu unterscheiden, ja, vielleicht auch noch zwischen den Zeilen zu lesen versteht. Du hast vollkommen recht. Aber du inkorporierst stellvertretend Millionen Leser, die vielleicht auf unterschiedlichen Bildungs- oder Werdestufen stehen, unter welchen dem einen zu Artistisches als manieriert, dem anderen zu Hausbackenes als alltäglich oder als „abgeschmackt“ erscheinen mag. Sollte es daher nicht besser sein, um möglichst viele Leser in den „molaresken“ Genuss kommen zu lassen, jedem etwas bieten zu wollen, sei es in der Sprache und ihren Ausdrucksmöglichkeiten, sei es in dem äusseren und inneren Inhalt und Gehalt? Und ausserdem, kann es nicht etwa sein, dass man, so man von Beflügeltem schreibt, nicht selbst gelegentlich „beflügelt“ wird und goldene Eier legt?